Ich habe Angst!

Die radikale Verengung der aktuellen Diskussion auf „Ungeimpfte“ grenzt in manchen Beiträgen mittlerweile an Volksverhetzung. Dient es nur dazu, ein Feindbild aufzubauen, das von den Versäumnissen der Regierung und der tendenziösen Unterstützung durch viele Medien ablenken soll? Was steckt hinter der Aggressivität und Dogmatik, mit der eine (vermeintliche?) Mehrheit verbissen versucht, einen Schuldigen für die Pandemie dingfest zu machen und sozial zu ächten? Welche Ursachen und welche Wirkungen hat das in unserer und auf unsere Gesellschaft?

Was mich hier beschäftigt ist weder die Pandemie noch die Impfung. Um diese Diskussion von vorne herein zu vermeiden: ich bin geimpft, ich werde mich boostern lassen und ich halte Impfung für ein gute und wichtige Maßnahme, um die Pandemie zu bekämpfen. Dasselbe gilt für Abstand, Hygiene, Masken wo nötig und Verzicht auf Massenveranstaltungen. Mir geht es hier nicht um die richtige oder falsche Maßnahme, es geht mir um den Umgang mit dem Thema, den öffentlichen Diskurs und den Umgang der Menschen miteinander, um die Wirkungen, die all das kurzfristig und langfristig auf die Verfasstheit unserer Gesellschaft hat.

Worüber diskutieren wir eigentlich? Schaut man auf die Medien und die öffentliche Debatte, bekommt man den Eindruck, dass ausschließlich die Frage „Impfen oder nicht“ für den Verlauf der Pandemie und die Gesundheit unserer Gesellschaft entscheidend ist. Und zwar auf beiden Seiten dieser Front. Aber ist das wirklich das entscheidende Kriterium und das Motiv unseres politischen Handelns?

Es ist seit Monaten bekannt, dass die Impfwirkung deutlich schneller nachlässt als erwartet, dennoch gibt es bis heute keine klare Strategie zur Booster-Impfung. Seit Beginn der Pandemie wird die Auslastung der Krankenhäuser und insbesondere der Intensivbetten als primäre Bedrohung angeführt und als Argument für die Notwendigkeit einschneidender Maßnahmen vorgebracht. Trotzdem ist die Anzahl verfügbarer Intensivbetten in Deutschland seit Mai 2020 rückläufig. Warum? Täglich wird in den Medien danach gelechzt, den Druck auf „Impfunwillige“ zu erhöhen, während gleichzeitig Impfzentren geschlossen wurden und Arztpraxen Impfungen wegen Überforderung ablehnen müssen. Von dem Impfstoff-Beschaffungsdesaster Anfang des Jahres ganz zu schweigen. Ebenso seit Monaten bekannt ist, dass auch vollständig Geimpfte das Virus munter übertragen. Dennoch gelten seit Neuestem für Geimpfte andere Einschränkungen als für Ungeimpfte und in den Medien wird notorisch von einer „Pandemie der Ungeimpften“ geredet, was selbst unser Corona-Papst Drosten für vollkommen falsch erklärt hat.

Mit den emotionalen und moralisierenden Aufrufen zu „Solidarität“, der Diskriminierung von Ungeimpften und einer pauschalen Zurückweisung auch noch so sachlicher kritischer Stimmen als „Coronaleugner“ und „Querdenker“ wird das gesellschaftliche Klima nachhaltig vergiftet und die Diskussion gezielt verunsachlicht. Zusammen mit Lockdown-Maßnahmen, die wesentliche Grundrechte einschränken, ohne dass ihre Wirkung wissenschaftlich belegt wäre und ohne dass signifikante Korrellationen der Infektionszahlen mit den Verschärfungen bzw. Lockerungen feststellbar sind, führt diese Politik gezielt zu Frustration und schädigt das Vertrauen der Bürger in die Politik. Der unsachliche öffentliche Diskurs und die gescheiterte paternalistische Notstandspolitik sind selbst mitverantwortlich dafür, dass immer mehr Bürger sich von dieser Politik und diesem Diskurs abwenden und sich mit Impfgegnern und Querdenkern solidarisieren – nicht weil sie ihnen inhaltlich zustimmen, sondern weil sie in deren Diskriminierung und der sich pandemisch ausbreitenden Unfähigkeit zu sachlicher Kontroverse das größere Problem sehen.

Was mir dabei Sorgen macht, ernsthafte Sorgen, sind nicht falsche politische Entscheidungen oder wirkungslose Maßnahmen. Selbst die Grundrechtseinschränkungen kann ich hinnehmen und einer notwendigerweise subjektiven Risiko-Nutzen-Abwägung zuschreiben. Dass vor dem Hintergrund einer existenziellen Bedrohung auch Grundrechte gegeneinander abgewogen werden müssen, steht außer Frage. Aber diese Abwägung muss auch stattfinden, d.h. es bedarf einer fundierten Begründung und einer offenen gesellschaftlichen Diskussion wenn die Menschenwürde an einer ihrer sensibelsten Stellen, nämlich der Selbstbestimmung über sich und seinen eigenen Körper in Frage gestellt werden soll. Auch wenn der kleine Stich einer Spritze vernachlässigbar erscheinen mag, wäre ein allgemeiner Impfzwang eine paradigmatische Wende in unserem rechtsphilosophischen Verständnis des Individuums, dessen Würde zu schützen vor dem Hintergrund unseres Grundgesetzes oberstes politisches Gebot sein muss.

Stattdessen wird aber mit dem fragwürdigen Ideal einer totalen Bekämpfung des Virus und im Sog eines als Solidarität missverstandenen kollektiven Egoismus das Individuum zum Instrument der Volksgesundheit degradiert und damit seine Menschenwürde in ihrem innersten Kern angetastet. Da schrecken Menschen, die ansonsten beispielsweise für bedingungsloses Grundeinkommen plädieren, nicht davor zurück, zu fordern, Mitmenschen, die sich gegen Impfungen entscheiden, die medizinische Behandlung zu versagen und sie mit anderen Worten einfach verrecken zu lassen. Und jeder Einwand wird mit moralisierendem, geradezu dogmatischem Eifer als Verstoß gegen das offensichtliche, wissenschaftlich verbriefte Gute zurückgewiesen, was nicht nur gesellschaftspolitisch sondern auch wissenschaftstheoretischer Unsinn ist. Es bleibt weder Raum für kontroverse Meinungen, noch für pragmatisches, strategisches Kalkül, noch für gesellschaftspolitische Prinzipien und Werte. Alles wird dem Kampf gegen das Virus untergeordnet. Es entsteht ein Atmosphäre der Aggressivität, in der nicht nur Ideologien und Totalitarismen aller Art bestens gedeihen, sondern auch aktiv Fronten aufgebaut werden, die einen Graben mitten durch unsere Gesellschaft ziehen. Und daran beteiligen sich ausgerechnet Menschen und Medien, die ich bis vor 2 Jahren bei aller politischer Meinungsvielfalt für grundständige Demokraten hielt, die Pluralismus, den offenen gesellschaftlichen Diskurs und die Würde des Menschen für unverhandelbar erachten.

Ich habe Angst. Nicht vor dem Virus und schon gar nicht vor der Impfung. Ich habe Angst vor einer Gesellschaft, deren freiheitlich-demokratisches Gesellschaftsverständnis so labil ist, dass sie es ob einer letztlich so geringen Kontroverse wie der um die Corona-Impfung bereits mit Füßen tritt und das nicht einmal bemerkt!


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