Intervention

Angesichts der aktuellen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan und des kläglichen Scheiterns des Westens beim Verteidigen nicht nur unserer eigenen Sicherheit und Freiheit am Hindukusch, sondern auch jener der afghanischen Zivilbevölkerung, erhebt sich die immer wieder selbe Frage nach dem außenpolitischen Umgang mit Unrechtsregimen.

Soweit es nur um taktische und strategische Machbarkeit geht, ist die Einschätzung von Experten alternativlos. Doch die Mehrheit der Argumente gegen ein Eingreifen in Krisenherden basiert nicht auf strategischen oder taktischen Einschätzungen, sondern im Kern auf einem gesellschaftspolitischen, scheinbar ethischen Prinzip, das auf die Autonomie von Völkern, Nationen, Staaten oder ähnlichen Gebilden verweist und einen internationalen Eingriff als Verletzung dieser Autonomie, als Übergriff auf die Selbstbestimmung jener Völker ablehnt. Der Versuch, demokratische Verhältnisse zu installieren, wird dabei bisweilen sogar als unethisch und sogar unmöglich bezeichnet, indem die Zielgesellschaften für unreif für Demokratie oder für inhärent ungeeignet für Demokratie gehalten werden. Aber auch ohne diese kulturchauvinistische Überheblichkeit werden Interventionen von vielen Seiten als nicht legitimer Eingriff in die Autonomie betrachtet.

Nun ist die Souveränität einer Bevölkerung gerade im demokratischen Verständnis eine Selbstverständlichkeit. Natürlich entscheidet die Deutsche Bevölkerung über ihre gesellschaftlichen Grundstrukturen und ebenso die französische über die ihren. Das Selbstbestimmungsrecht ist eine Grundfeste der Demokratie! Aber der Begriff der Selbstbestimmung der Völker suggeriert, dass es sich bei diesen Völkern, Nationen, Staaten – wie auch immer man diese völkerrechtlichen Gebilde bezeichnen will – um Subjekte handelt, die sich selbst bestimmen und denen auch dann noch ein solches Recht zusteht, wenn sie sich damit selbst schaden.

Das ist aber nicht der Fall! Völker, Nationen, Staaten sind keine Individuen, sondern abstrakte Kollektive aus Individuen. Das Selbstbstimmungsrecht, wie wir es einem Individuum zugestehen, ist auf sie nicht anwendbar. Die Argumentation, dass unter das Selbstbestimmungsrecht auch die Entscheidung fällt, sich selbst zu schaden, bis hin zum Selbstmord, gilt für Individuen, aber nicht für Kollektive. Denn das entscheidende Kriterium dafür ist, dass es sich bei demjenigen, der sich entscheidet und handelt, und demjenigen, der unter dieser Entscheidung allein leidet, um ein und dieselbe Person, um ein und dasselbe Subjekt handelt. Das ist aber bei Kollektiven nicht der Fall, da es aus einer Vielzahl unterschiedlicher Subjekte besteht.

Wo immer also auf die Autonomie des Kollektivs verwiesen wird, ist das nur insoweit legitim, als diese Autonomie des Kollektivs im Dienste der Autonomie des Individuums steht. Sobald sie ihr entgegensteht, sobald ein Kollektiv oder eine herrschende Elite die Autonomie des Individuums ohne Legitimation einschränkt und dazu auf ihre Selbstbestimmung verweist, wird das Individuum dem Kollektiv untergeordnet und seine Menschenrechte werden beschnitten. Die Menschenrechte sind aber, wie der Name schon sagt, an den Menschen gebunden, sie sind unhintergehbar und können durch keinen kollektiven Anspruch überstiegen werden, sofern er nicht selbst unmittelbar auf individuelle Menschenrechte zielt.

Die Würde des Menschen besteht darin, immer Selbstzweck und niemals Mittel zum Zweck zu sein. Wer diesen Grundsatz der Aufklärung einmal verstanden hat, kann nie wieder dahinter zurück und er wird jederzeit das individuelle Menschenrecht über alle Arten von kollektiven Zielen, Ideen und Rechtsformen stellen müssen. Kein nationales Gesetz, keine Grenzen, keine Verfassung und kein Herrschaftsanspruch kann mehr Gewicht haben als die Verteidigung der Menschenrechte und der Selbstbestimmung des einzelnen Menschen. Wer nicht versucht, auch im hintersten Winkel des Hindukusch den Einzelnen vor dem Übergriff eines Kollektivs zu schützen, macht sich letztlich die Logik des Despotismus zueigen und entwürdigt das Individuum, indem er es zum Mittel zum Zweck degradiert.

Selbstverständlich heißt das nicht, dass wir nun beliebig Gesetze für andere Länder erlassen können. Es heißt auch nicht, dass in jedem Falle von Menschenrechtsverletzungen ein Eingriff, zumal ein militärischer, nötig, möglich oder sinnvoll ist. Aber es heißt, dass immer dann, wenn ein Herrschaftssystem sich anschickt, Individualrechte mit Füßen zu treten, der Verweis auf die Autonomie fremder Völker, Kulturen oder Nationen ein zynisches und menschenverachtendes Scheinargument ist. Die Menschenrechte kennen weder Grenzen noch Kulturen!

Bild: CC BY-SA 4.0

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