Ein Virus spaltet die Gesellschaft

Skizze eines Versuches, alle Seiten zur dringend nötigen Normalität aufzurufen.

Betrachtet man die Maskenpflicht außerhalb ihres Kontextes, dann handelt es sich um eine simple Verordnung, eine vorbeugende Hygienemaßnahme zur Eindämmung einer Pandemie. Eine umstrittene, aber dennoch vergleichsweise nebensächliche Maßnahme, die zwar störend in den Alltag, aber wohl kaum in die zentrale politische Konfiguration unserer Gesellschaft eingreift.

Und doch entzündet sich an dieser Maske ein Protest, der ein ganzes Sammelsurium an Kritik, Protesten, Ängsten und Ideologien triggert, deren Themen teilweise mit Maskenpflicht und Corona überhaupt nichts mehr zu tun haben. Der gemeinsame Nenner dieser Themen wurzelt tiefer in unserer Gesellschaft. Die Maske, mit der das Gesicht, die Atmungsorgane und das Sprechwerkzeug des Menschen bedeckt und zumindest optisch versperrt werden, hat trotz aller rationalen Rechtfertigungen eine symbolische Dimension, die auf zentrale Werte unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung verweist: Das Gesicht als Symbol des Individuums, der Mund als Symbol der Sprache und damit der Meinungsfreiheit, der Atem als Symbol des Lebens und der Verbindung des Menschen mit dem Kosmos. Es sind nicht die realen Einschränkungen oder die gesundheitlichen Bedenken, es ist diese Symbolik, die das Maskentragen zum Fokus und Trigger für das Sammelbecken an Protestierenden macht, die sich jetzt unter so unspezifischen Namen wie „Querdenker“ äußern. Die Maske ist nur der Aufhänger. Das wird deutlich, wenn man sich anschaut, wer bei den Demonstrationen mitläuft und wofür bzw. wogegen protestiert wird: Corona, Maskenpflicht, Bill Gates, Impfung, Systemmedien, Merkel-Diktatur, QAnon etc. Vom Jesus-Hippie und linksalternativen Impfgegner über AfD und Libertäre bis zu Identitären und Reichsbürgern ist alles vertreten.

Der gemeinsame Nenner dieser teilweise absurd konträr erscheinenden Demonstranten ist eine fundamentale Entfremdung von den Institutionen unserer Demokratie. „Freiheit“ und „Grundrechte“ sind die Schlagwörter, die sich als roter Faden durch die Heterogenität ziehen. Die Kritik richtet sich dabei nur vordergründig auf die konkrete Regierung, auf konkrete Entscheidungen, politische Strategien oder Personalien. Sie richtet sich eigentlich auf eine Gesellschaft und ein System, das als Angriff auf die Freiheit und Selbstbestimmung erlebt wird, das als manipulativ, dogmatisch und das Grundgesetzt pervertierend erlebt wird. Die Vorbehalte reichen von dem Gefühl, der alternativlosen Politik einer gesellschaftlichen Elite ausgeliefert zu sein, über die Angst vor Impfungen, vor manipulierter Information, vor Migration, Pluralismus und dem Verlust einer nationalen Identität, bis hin zu handfesten Verschwörungstheorien, esoterischen und religiösen Irrationalismen, die in reaktionären und unterkomplexen Ideologien und Extremismen münden.

Die Proteste in Berlin stilisieren sich auf dieser Basis zu einem scheinbaren Freiheitskampf, der in geradezu perverser Weise versucht, sich in den Kontext der aktuellen Aufstände in Belarus zu setzen, wo Menschen in tatsächlicher politischer Unfreiheit und unter tatsächlichem Einsatz ihres Lebens gegen eine Diktatur aufstehen. Doch die „Freiheitskämpfer“ hier genießen eine unvergleichbare Freiheit und Sicherheit, die ihnen das System garantiert, das sie bekämpfen. Und die Rufe nach „Frieden und Freiheit“ stehen auch in keinem Verhältnis zur offiziellen Thematik der Demonstrationen. Die Maskenpflicht und den Umgang der Regierung mit Corona zu kritisieren ist völlig legitim, aber die Stilisierung unseres Staates zu einem Unterdrückungssystem, das den Aufstand des Volkes und einen Freiheitskampf nötig macht, sind daraus in keiner Weise ableitbar und vor dem Hintergrund der Geschichte und Realität der Bundesrepublik einerseits und all jener Menschen, die wirklich in Unterdrückung und Krieg leben müssen wie in Belarus, in Syrien, in Palästina, im Iran, in Nordkorea etc. andererseits an Zynismus kaum zu überbieten. Allein die Tatsache, dass in Berlin trotz Verstoßes gegen die Corona-Regeln demonstriert werden kann, allein die Tatsache, dass ein Gericht das Verbot der Exekutive aufhebt, allein die Tatsache dass verfassungsfeindliche Symbole wie die Reichsflagge ungehindert geschwenkt werden, sollte zur Genüge beweisen, dass wir hier bei aller legitimen Kritik nicht einmal ansatzweise in einer Diktatur leben. Woher aber kommt diese hoffnungslose Übertreibung, dieses in Zynismus mündende Pathos, mit dem die Proteste aufgeladen werden? Warum fühlen sich Menschen entgegen aller objektiven Tatsachen von einer Diktatur umgeben, von Unfreiheit und der Aushöhlung ihrer Grundrechte bedroht?

Auch wenn unsere Verfassung die Freiheit als unveräußerliches Gut schützt und es nur wenige Länder auf der Erde gibt, in denen die Menschen in vergleichbarer aktiver wie passiver Freiheit leben, genießt Freiheit in unserer Gesellschaft dennoch – oder vielleicht gerade deswegen? – kein hohes Ansehen. Dem Liberalismus, wie er in der angelsächsischen Tradition lebt, wird hier mit großem Misstrauen begegnet. Das Individuum steht unter dem generellen Verdacht der Zügellosigkeit, des Egoismus, des Irrtums und der Amoralität, die nur durch das Kollektiv und sein Gesetz gebändigt werden kann. Je länger unsere Republik in Freiheit lebt, besonders seit mit der Wende das ständige Negativ-Vorbild der Unfreiheit und des Unrechts im eigenen Land verschwunden ist, desto geringer scheint sie den Wert der Freiheit zu schätzen und stattdessen Sicherheit, Wohlstand und eine auf Uniformität basierende Form der Gerechtigkeit vor die Freiheit des Individuums zu stellen. Sowohl die politische Elite als auch Intellektuelle und Bildungsbürgertum pflegen einen zunehmend enger werdenden Wertekanon, der in die Moralisierung politischer Ziele, in Haltungsjournalismus und einen zunehmend polarisierenden öffentlichen Diskurs mündet.

Was den Widerstand gegen diese zunehmend dogmatische Öffentlichkeit entzündet, sind weniger ihre Inhalte, sondern die gefühlte Alternativlosigkeit, mit der sie durchgesetzt werden. Der Umgang mit der AfD, die sich von einer konservativ-liberalen Themenpartei zu einem Auffangbecken rechtskonservativer Enttäuschungen entwickelt hat, zeigt dies mustergültig. Der Diskurs über die AfD ist nur sehr selten sachlich und inhaltlich argumentierend, sondern meist moralisierend, tabuisierend und strategisch argumentierend. Es wird nicht diskutiert, wie man ihre Argumente widerlegen kann, noch wie man die Sorgen und Interessen ihrer Wähler in die moderate politische Mitte integrieren kann, es wird nur diskutiert, wie man sie bekämpfen, wie man sie mundtot, wie man sie an aktiver Teilnahme im Parlament hindern kann. Aber man mag die Inhalte dieser Partei noch so sehr ablehnen, es ist demokratische Pflicht, ihr argumentativ und nicht manipulativ zu begegnen. Nicht nur aus demokratischer Rechtschaffenheit, sondern weil ihr der Tabuisierungsversuch regelmäßig noch mehr Wähler in die Arme treibt. Beim Thema Klimawandel wurde dann die Öffentlichkeit von einem Tsunami an Moralismus überschwemmt, der jedes sachliche Maß überschritt und die kritischen Grundprinzipien der Wissenschaft, auf die so insistierend verwiesen wurde, aus politischer Taktik zu Pauschalismen und Dogmen simplifizierte. In der Corona-Pandemie, so nebensächlich sie im Vergleich zum Klimawandel eigentlich ist, wurden aber nicht nur abstrakte Diskussionen über zukünftige Entwicklungen geführt, sondern reale, spürbare Eingriffe in den Alltag, in die Grundrechte und die Lebenswelt der Menschen auf Basis einer konkreten, aber schwer abschätzbaren Bedrohung beschlossen und mit einem moralischen Unterton durchgesetzt, der kritische Stimmen und kontroverse Diskussionen zu ersticken versuchte. Der Bürger wurde nicht nur ad hoc mit allgemeinen Vorschriften konfrontiert, er sollte teilweise mit erklärt nutzlosen Maßnahmen volkserzieherisch auf Spur gebracht werden. Viele Medien spielten dabei ein wenig objektive Rolle. Sie machten sich zu Missionaren der staatlichen Vorgaben, statt Ihrer originären Aufgabe der kritischen Hinterfragung von Politik und Regierung nachzugehen.

Und die Berichterstattung über die Demonstrationen führt diese Haltung fort. Auch wenn die Angaben der Veranstalter zu den Teilnehmern auch dieses Mal wieder hoffnungslos übertrieben sind, auch wenn eine bedenkliche Masse an rechtsnationalistischen, verschwörerischen, antidemokratischen und esoterisch durchgeknallten Positionen die Demonstration als Forum nutzen – die überwiegende Mehrheit demonstriert, zurecht oder nicht, auf jeden Fall aber legitimerweise gegen die aktuelle Politik der Regierung. Dieser legitime Protest geht aber unter in einer verabsolutierenden Empörung, die oft aus einer politischen Diskussion über die Corona-Vorgaben eine Frage moralischer Gesinnung macht und dazu tendiert, jeden, der die staatliche Strategie in Frage stellt, zum Verschwörungstheoretiker und Nazi zu erklären. Das ist nicht nur eine Polarisierung, das ist in der Nachhaltigkeit, mit der es auftritt, ein fataler Verlust der Diskursfähigkeit unserer Gesellschaft, der seit einiger Zeit zu beobachten ist.

Doch warum eskaliert diese Entwicklung ausgerechnet mit der Corona-Pandemie, einer Krise, so sollte man meinen, in der alle Menschen zusammenstehen und gegen das Virus kämpfen, das uns alle gleichermaßen und von außen bedroht? In der Pandemie sehen wir, gerade weil es niemandes Werk, sondern schlicht und ergreifend ein Naturereignis ist, das Musterbeispiel der Freiheitsfrage vor uns. Das Wesen der Pandemie – nicht der Krankheit, sondern ihrer Ausbreitung – ist die Abhängigkeit des Einzelnen von seiner sozialen Umwelt und umgekehrt. Ich kann mich als Einzelner weder vor ihr schützen noch ihr Risiko als meine Privatsache betrachten. Sofern ich nicht als Einsiedler im Wald wohne, sondern soziale Kontakte habe, steht mein Verhalten in der Pandemie mit der gesamten Menschheit in Zusammenhang. Eine Pandemie kann ihrem Wesen nach nur kollektiv bekämpft werden, indem jeder einzelne Träger dafür sorgt, die Verbreitung zu stoppen. Die individuelle Freiheit stößt hier an eine Grenze, weil sie nicht wie bei anderen Gefahren das Risiko für sich selbst abwägen kann, sondern mit dem Eingehen eines eigenen Risikos die gesamte Umwelt diesem Risiko unterwirft. In der Pandemie zeigt sich in isolierter Form der Konflikt zwischen individueller Freiheit und gemeinschaftlicher Verantwortung, der das Wesen von Gesellschaft ausmacht und den Begriff des Sozialen vom bloßen Kollektiv absetzt.

Anders als Klimawandel und Kriege am anderen Ende der Welt ist die Pandemie eine potentiell unmittelbare Bedrohung für jeden Einzelnen. Fokussiert man ausschließlich auf die Bekämpfung der Pandemie, dann ist die konsequente Unterordnung des Individuums unter die Verantwortung für das Kollektiv eine logische Folge, und aus der Verantwortung für den Mitmenschen, aber auch den eigenen Schutz, resultiert der moralische Imperativ, seine privaten Interessen zurückzustellen, wenn mit ihnen auch nur das geringste Risiko einer Übertragung verbunden ist. Dieser moralische Imperativ wird aber zum Totschlagargument, wenn ausgeblendet wird, dass die Welt bei aller Dringlichkeit der Corona-Problematik auch noch andere Probleme und Herausforderungen hat, und auch die Strategie gegen eine Bedrohung wie Corona mit anderen kollektiven wie individuellen Interessen und Ansprüchen konkurriert. Hier hat die staatliche Strategie meines Erachtens den Fehler begangen, sich zu sehr an den wissenschaftlich zweifellos soliden, aber in ihrer Fokussierung auf das Pandemiegeschehen als alleinige Urteilsgrundlage nicht hinreichenden Fakten ihrer virologischen und epidemiologischen Fachberater zu orientieren, und eben jenen moralischen Imperativ zum alles dominierenden Leitmotiv zu machen, was dazu führte, dass eine für alternativlos erklärte Strategie in einem angesichts der Lage unumgänglichen Eilverfahren umgesetzt und dabei jede noch so qualifizierte und sachliche Kritik daran aus Angst vor einem Einbrechen der Strategie unterdrückt, moralisiert, kriminalisiert oder sogar pathologisiert wurde. Und leider beteiligten sich weite Teile der Gesellschaft und der Medien freiwillig an dieser Strategie. Das mag überzeichnet klingen, ist aber eine klar erkennbare, wenngleich und hoffentlich nicht exklusive Tendenz.

Wir sehen auf der einen Seite eine extrem fokussierte Angst vor einer Pandemie, die in einen moralischen Absolutismus verfällt, statt den rationalen Diskurs aufrecht zu erhalten. Auf der anderen Seite sehen wir eine diffuse Angst vor einem Sammalsurium an Bedrohungen, die sich hinter der Corona-Kritik vereinen und sich zu der Vorstellung eines diktatorischen Systems hochgeschaukelt haben, gegen das sich ein Protestmythos entwickelt, dessen Selbstbild sich mit Freiheitsbewegungen wie jener in Belarus gleichsetzt, obwohl bei aller Kritik die objektiven Verhältnisse gegensätzlicher nicht sein könnten. Auch hier setzt der rationale Diskurs aus und es ist deshalb kein Wunder, dass allerlei Irrationalismen und politische Extremismen wie Reichsbürger und Identitäre dieses Narrativ aufgreifen und diese Angst vor Unterdrückung mit ihren antidemokratischen und systemfeindlichen Zielen füttern.

Der Anblick der Reichsflaggen vor dem Bundestag ist wahrlich unerträglich. Die Reichsflagge war das Zeichen der Monarchisten und später des Nationalsozialismun, war bis dato das geächtete aber nicht verbotene Zeichen von Neonazis und diente ihnen als Ersatz für die verbotene Hakenkreuz-Flagge. Schlimmer aber als das kleine Häufchen Identitärer und Reichsbürger, das sich die Treppen zum Bundestag hochquängelte und von drei einsamen Polizisten daran gehindert wurde, ist die Arglosigkeit, mit der die große und erklärtermaßen nicht rechtsextreme Masse der Demonstranten diese Flaggen stillschweigend hinnahmen und mit sich marschieren ließen. Ich war in jüngeren Jahren reichlich auf Demos und immer gab es Mitläufer und Extremisten, die versuchten, die Demonstrationen für sich zu instrumentalisieren. Ihre Flaggen und Plakate wurden aber regelmäßig von den „echten“ Demonstranten heruntergerissen und sie wurden als „Störer“ ausgegrenzt. Zumindest wurde es versucht. Dass dies in Berlin nicht stattgefunden hat, obwohl die Teilnahme rechtsextremer Gruppen deutlich angekündigt war, kann genau zwei Gründe haben: Entweder ist man dem rechtsextremen Gedankengut doch aufgeschlossener gegenüber, als man vorgibt, oder die Demonstranten sind politisch und historisch hoffnungslos naiv und uninformiert. Wenn Michael Ballweg von „Querdenken 711“, dem Veranstalter der Großdemo, die Verfassung der Bundesrepublik für aufgelöst erklärt und eine Verfassungsversammlung einberuft, dann ist das ein eindeutiges Statement gegen unsere Verfassung und weit entfernt von den vorgegebenen Inhalten der Corona-Kritik, dafür aber sehr nahe an den Positionen von Reichsbürgern und Identitären. Bei allen Beteuerungen die man hört, bleibt so die Distanzierung vom Rechtsextremismus zumindest halbherzig und diffus. Bei der Masse der Demonstranten halte ich allerdings eine gewisse Naivität und emotionale Motivation angesichts der Corona-Krise für wahrscheinlicher, denn diese politische Naivität findet sich auch in vielen sehr diffusen Äußerungen der Demonstranten und ihrer Sympathisanten wieder.

Angst auf der einen Seite, die den Diskurs verengt, Angst auf der anderen Seite, die den Diskurs vernebelt. Schon in der Klimafrage standen sich die Angst vor der Apokalypse und die Angst vor dem Verlust gewohnter Lebensformen unversöhnlich gegenüber. Doch obwohl das Thema nicht ansatzweise die Tragweite der Klimaproblematik hat, führt die Corona-Krise die Spaltung unserer Gesellschaft in ganz neue Dimensionen. Während von der einen Seite die Hygienemaßnahmen und der Lockdown geradezu als Heldentat gefeiert und jede Kritik als Zeichen moralischer oder intellektueller Unzurechnungsfähigkeit gebrandmarkt wird, fühlt sich die andere Seite als politische Avantgarde einer Aufklärungs- und Befreiungsbewegung und betrachtet jeden Andersdenkenden als Marionette einer groß angelegten Manipulation. Zugegeben, das sind die Extrempunkte dieser Front, aber die Verhärtung auf beiden Seiten in diese Richtungen ist frappierend und beängstigend zugleich.

Diese Spaltung der Gesellschaft, die mit einer beidseitigen Lähmung des rationalen und offenen Diskurses einher geht, ist die eigentliche Gefahr in dieser Krise, und der Blick auf die letzten Jahre zeigt, dass dies keine temporäre Erscheinung, sondern eine zunehmende Entwicklung ist. Demokratie, Freiheit, Frieden und Wohlfahrt unserer Gesellschaft hängen maßgeblich an einem offenen und rationalen Diskurs. Offen heißt dabei, dass in der Diskussion keine Tabus bestehen, dass alle Meinungen und Interessen gleichberechtigt einbezogen werden, dass weder Diskriminierung noch Ausgrenzung und Dogmatismus stattfinden. Rational heißt, dass auf Basis von Argumenten, wissenschaftlichen Erkenntnissen und objektiv nachvollziehbaren Fakten diskutiert wird, dass die Diskussion in einem Kontext revidierbarer aber anerkannter Theorien und Methoden steht. Die Demokratie als offene, pluralistische, rechtsstaatliche, soziale und die Freiheit des Individuums respektierende Gesellschaftsform fußt auf diesem Diskurs. Extremistische, antidemokratische Kräfte versuchen stets, diesen Diskurs zu stören und zu unterdrücken, egal ob von links oder von rechts, von oben oder von unten. Die eine Strategie wendet sich dabei gegen die Offenheit, indem sie versucht Dogmen aufzubauen, Meinungsdiktate zu erreichten und mit Gewalt den Diskurs zu kontrollieren. Die andere Strategie besteht darin, die Rationalität zu torpedieren, den Diskurs mit Relativierung, mit Desinformation und irrationalen Spekulationen zu chaotisieren. Jene Strategie verweist dabei gerne auf Rationalität und Institutionen, um den Angriff auf die Offenheit zu rechtfertigen, und wiegelt jede abweichende Meinung mit scheinbar unfehlbaren wissenschaftlichen Fakten und unhintergehbaren moralischen Prinzipien als unqualifiziert und amoralisch ab. Die andere Strategie verweist stets auf die Offenheit, um den Angriff auf die Rationalität zu rechtfertigen, und schreit sofort „Zensur“ wenn nicht jede noch so irrationale Thesen als Diskursbeitrag ernst genommen wird.

Je mehr beide Seiten sich in diese Argumentation hinein versteifen und sich die moderate Mitte in einem symbolschwangeren, aber letztlich vergleichsweise nebensächlichen Problem derat entzweien lässt, dass sie es nicht mehr schafft, ihren Dissens in einem offenen, rationalen Diskurs auszutragen, desto mehr profitieren antidemokratische, antifreiheitliche und antirationale Kräfte wie Reichsbürger, Identitäre, rechtskonservative AfD-Flügel, aber auch gewaltbereite Antifa-Gruppen, marxistische Diktaturverherrlicher und linksradikale Weltverbesserer. Die rechtskonservative Ecke betrachtet ihren sogenannten Freiheitskampf als eine Reaktion auf einen linken Totalitarismus. Die linksintellektuelle Ecke wiederum betrachtet ihre radikale Diskursverweigerung als notwendige Reaktion auf eine rechtsextreme Bedrohung. Und je unversöhnlicher die Diskussion wird, desto mehr finden sich die radikalen Lager beider Seiten in ihrem gewaltbereiten Extremismus bestätigt.

Was wir stattdessen dringend brauchen, ist eine radikale Mitte, die mit starken demokratischen Strukturen und Institutionen dafür sorgt, dass ein Maximum an Pluralismus bei einem Minimum an Extremismus möglich ist. Starke demokratische Strukturen sind solche, die dafür sorgen, dass die demokratischen Prozesse neutral, transparent und unbestechlich bleiben, dass sie Verfahren zur Entscheidungsfindung definieren, in denen politische Ziele nicht schon von vorneherein vorgegeben oder ausgeschlossen sind, sondern in denen diese nachvollziehbar entwickelt werden. Ein offener rationaler Diskurs ist die unveräußerliche Grundlage solcher Strukturen. Regierung und Parlament sind nur eine Säule der Demokratie. Unabhängige und kritische Medien und eine unabhängige Gerichtsbarkeit gehören ebenso dazu. Aber auch Demonstrationen sind eine unveräußerliche demokratische Institution. Demokratie beschränkt sich nicht auf Mehrheitsabstimmungen, sondern entsteht in einem komplexen Geflecht aus Entscheidungsstrukturen, Interessenvertretungen, Informations- und Kommunikationsmedien, Beratungs- und Verwaltungsorganen. Wir müssen die Neutralität dieser Institutionen respektieren und stärken, und sie nicht für das eine oder andere politische Dogma instrumentalisieren. Und dann müssen wir die Autorität dieser Institutionen respektieren und stärken, nicht weil sie uns diktieren sollen, sondern weil sie der Garant für eine freie, gerechte und soziale Gesellschaft sind. Denn es sind ausgerechnet dieser Geist und diese Institutionen, und das hohe Maß an Freiheit, Gerechtigkeit und sozialer Wohlfahrt, das sie in Deutschland im Vergleich zu fast allen Ländern der Welt geschaffen haben, die letztlich dafür verantwortlich sind, dass der Verlauf der Pandemie in Deutschland so herausragend gut unter Kontrolle ist. Die Entwicklung der Infektionszahlen, insbesondere aber der Todesfälle, sowie der Vergleich mit anderen Ländern wie Italien, den USA oder Spanien zeigen: Es waren weder die Masken noch der Lockdown, sondern eine Gesellschaft, deren Bürger sich zivilisiert und verantwortlich verhalten, deren Verwaltungsstrukturen und Infrastrukturen im Gesundheitswesen funktioniert haben, die finanzielle Krisen solidarisch und organisiert abfangen kann und die trotzdem dem Individuum ein hohes Maß an Selbstbestimmung zuspricht.

Das Pathos, mit dem jetzt die Kritik an der übervorsichtigen Strategie der Regierung zur Diktatur erklärt, gar mit dem Dritten Reich verglichen wird, und der Protest dagegen zum Freiheitskampf und zum gesellschaftlichen Aufbruch in Prallele zur Wende hochstilisiert wird, sogar zur Abschaffung der Bundesrepublik aufruft, ist völlig überzogen und ist trotz aller inhaltlichen Distanzierung im obenen beschriebenen Sinne geradezu eine Einladung an antidemokratische, reaktionäre und freiheitsfeindliche Kräfte. Natürlich versuchen da allerlei Gruppierungen auch politisches Kapital aus der diffusen Unzufriedenheit zu schlagen und das Grundanliegen der Demonstrationen ist berechtigt und legitim. Aber statt in irrationale und teilweise verschwörungstheoretische Diskurse und Befreiungsmythen zu verfallen, sollten die demokratischen Strukturen im oben beschriebenen Sinne genutzt und gestärkt und ein rationaler, auf die konkreten inhaltlichen Punkte konzentrierter Diskurs geführt werden, statt mit einer Fundamentalkritik fragwürdigen Bewegungen eine Bühne zu geben. Zugleich sollten wir den beschämend bornierten Tabuisierungsdiskurs gegen alles, was nicht ins Raster der typischen bildungsbürgerlichen und linksintellektuellen Mehrheitsmeinung passt, begraben und zu einem offenen Diskurs zurückkehren, der Pluralismus nicht nur als dekoratives Prinzip versteht und Kontroverse nur innerhalb der eigenen Filterblase zulässt. Unsere Demokratie ist nicht perfekt, aber sie ist weit von einer Diktatur entfernt und wenn sich die Welt dreht und sich manchmal Dinge ändern geht sie davon nicht unter. Und Corona ist ein beherrschbares Problem, wie jede Krankheit im Einzelfall tragisch und engagiert zu bekämpfen, aber es erfordert weder einen alternativlosen Kreuzzug noch die Umgestaltung der gesamten Gesellschaft. Angst ist nicht nur ein schlechter Berater, sie ist überhaupt kein Berater. Die Idee absoluter Sicherheit ist ebenso illusorisch wie die Idee absoluter Freiheit. Risiken und Verantwortung, individuelle Interessen und kollektive Vereinbarungen, Pluralismus und Konflikt, Kontroverse und Kompromiss sind keine Ausnahme, sondern die Regel. Sie sind keine Krise, sondern Normalität! Deswegen lasst uns bitte alle wieder normal werden!

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