Gendersternchen und Cancel-Culture

Zwei Kampfbegriffe und ein Widerspruch

Das Gendern von Sprache, d.h. das Verwenden von Ausdrücken, die grammatisch sowohl weiblich als auch männlich sind, wird sehr oft mit dem Ziel begründet, durch die Verwendung dieser Sprache die soziale Realität zu verändern. Dahinter steht die Überzeugung, dass durch die Art und Weise, wie wir mit Sprache kommunizieren, Einfluss genommen werden kann auf gesellschaftliche Strukturen, dass also die Verwendung bestimmter grammatischer Formen nicht nur Ausdruck der Haltung des jeweiligen Sprechers ist und Geschlechtsneutralität symbolisch im Text abbildet, sondern dass durch diese Kommunikation dieses Bewusstsein tatsächlich gesellschaftlich real geschaffen werden kann, bzw. dass durch das Gegenteil, d.h. die Verwendung nicht gegenderter Sprache reale Diskriminierung reproduziert und dadurch gesellschaftlich etabliert wird. Die Überzeugung ist also, dass Sprache allein die gesellschaftliche Realität verändern kann.

Der Begriff Cancel-Culture wird von Menschen verwendet, die den Eindruck haben, dass bestimmte politische oder weltanschauliche Überzeugungen von Seiten der Politik, der Medien und anderer gesellschaftlicher Eliten durch Ausgrenzung und Diffamierung in der öffentlichen Diskussion unterdrückt und so aus der Gesellschaft ferngehalten werden sollen. Ein zentraler Vorwurf dabei ist, dass von diesen Eliten quasi eine Art Sprechverbot ausgehe und dass man nicht mehr alles „ungestraft“ sagen könne. Worin genau das Verbot liegt, wird aber meist nicht definiert. Die mit diesem Vorwurf Gemeinten weisen diesen aber meist weit von sich und erwidern mit Verweis auf unsere Verfassung und die rechtsstaatliche Realität, in der tatsächlich Redefreiheit besteht und diese auch durchgesetzt wird, dass wer sich über Cancel-Culture und angebliche Redeverbote beschwert, in Wahrheit nur nicht bereit ist, die Gegenrede zu ertragen. Denn wo defacto gesetzlich garantierte Meinungsfreiheit herrscht, da kann es auch keine Cancel-Culture geben.

Es ist kein Zufall, dass weite Teile der Befürworter von gegenderter Sprache identisch sind mit denjenigen, die den Begriff Cancel-Culture als billigen Framingversuch abweisen, bzw. eben auch umgekehrt sich in großen Teilen das Anti-Gender-Klientel mit demjenigen deckt, das den Vorwurf der „Meinungsdiktatur“ erhebt. Und diese beiden Stichworte sind hier auch nur exemplarisch gewählt. Die Problematik ließe sich auch an anderen Beispielen bearbeiten.

Was mich nun daran irritiert ist der offensichtliche Widerspruch zwischen den jeweiligen Argumentationen für bzw. gegen die entsprechenden Thesen: Während im einen Falle argumentiert wird, dass Kommunikation und Sprache, und sogar nur ihre grammatische Umsetzung, gesellschaftliche Fakten schaffen und unsere soziale Realität maßgeblich beeinflussen können, wird im anderen Falle auf das Gesetz und damit auf staatliche Gewalt als einzigen gesellschaftlich realen Faktor verwiesen und rein sprachliche und kommunikative Einflussnahme auf die Verfasstheit unserer Gesellschaft und ihren öffentlichen Diskurs geradezu blasiert zurückgewiesen. Und die andere Partei macht umgekehrt genau das selbe: sie beschwert sich über eine Atmosphäre der Diskriminierung ihrer Überzeugungen rein durch mediale, kulturelle und sprachliche Kommunikation, während sie sich über die Vorstellung totlacht, dass ein Gendersternchen irgend eine gesellschaftliche Relevanz haben könnte.

Mir ist in immer wiederkehrenden Diskussionen unbegreiflich, wie man eine so differenzierte, abstrakte und auf feinste kommunikaionstheoretische Nuancen aufgebaute Theorie ausarbeiten kann, wie es die Genderwissenschaften tun, und gleichzeitig den Einfluss, den die inhaltliche und formale Ausrichtung der Kommunikation in kulturellen, politischen und medialen Institutionen auf die Gesellschaft haben kann, einfach leugnet. Wie kann man einerseits behaupten, dass die Verwendung von Sammelbegriffen mit männlichem Genus eine reale Diskriminierung darstellt und diskriminierende soziale Strukturen befördert, aber anderseits nicht sehen, dass „Redeverbote“, dass gesellschaftliche Tabus, gesellschaftliche Diskreditierung bis hin zu existenzieller sozialer Vernichtung nicht nur durch staatliche Zensur, sondern auch und gerade durch entsprechende Kommunikation, durch mediale Ausgrenzung, durch kulturelle Wertungen jenseits staatlich-juristischer Gewalt etabliert und befördert werden kann.

Man muss sich entscheiden. Entweder ist Kommunikation soziale Realität oder sie ist nur ephemeres Abbild derselben. Vielleicht ist es auch beides, vielleicht ist es auch etwas Drittes. Aber wie immer man sich da entscheidet: es gilt in jedem Falle für Gendersternchen und Cancel-Culture gleichermaßen!

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