Der Guru und die Orgel

Ich hätte ja eigentlich Priester werden sollen. Das ist sonnenklar. Nicht nur weil das ein Beruf ist, in dem man so uncool wie möglich sein kann, in dem man tiefschürfende Reden über abstrakte Fragen schreiben darf, wo Menschen zu einem kommen und man sich niemandem aufdrängen muss – nein, ich liebe vor allem dieses ganze liturgische Pathos, die Symbolik, das rituelle Evozieren nebulöser Empfindungen, das Eintauchen in selbstgenügende zeremonielle Handlungen. Daran kann ich mich endlos ergötzen wie sonst nur an der Musik.

Das wird mir besonders dann klar, wenn ich einem evangelischen Gottesdienst beiwohne, wozu ich – der geneigte Leser ahnt es bereits – dieser Tage wieder einmal Veranlassung hatte. Denn dieser evangelische Gottesdienst ist so bemüht ungezwungen, so knöchern um Modernität bemüht, so infantil unabstrakt und vor allem so völlig ohne Pathos, ohne Zeremoniell und Symbolik, dass mich das Verlesen eines Immobilienkaufvertrages im Notariat deutlich intimer berührt. Den Höhepunkt findet meine Antipathie übrigens in den zwanghaft in die Lieder eingefügten Synkopen am Taktende, die wohl irgendwie modern oder jugendlich oder cool oder wie auch immer wirken sollen und die das Erkennungszeichen jedes gitarrenbewaffneten evangelischen Jugendwandertags und zugleich eine Beleidigung für klassische Kirchenmusik wie modernen Jazz, Rock und Pop gleichermaßen sind.

Die völlige Abwesenheit dessen, was ich an Kirchen, Gottesdiensten und Messen so faszinierend finden kann, schockierte mich nicht nur in meinem eigenen Konfirmandenunterricht, sondern ist auch der Grund, warum ich trotz evangelischer Taufe die katholische Liturgie weit gelungener finde. Sie haben nicht nur eine pragmatischere Ethik, sie machen auch die bessere Show. Auch die von Steiner inspirierte Christengemeinschaft ist diesbezüglich wesentlich ergiebiger, auch wenn ihre Roben noch immer aussehen wie die Nähversuche aus dem Handarbeitsunterricht der Waldorfschule. Letztere versuchen erst gar nicht, aufgeklärt, diesseitig, sachlich, ungezwungen oder jugendlich zu sein, Steiner hat vielmehr erkannt, dass das Zeremonielle nicht Methode zur Inhaltsvermittlung ist, sondern der eigentlich Kern der Sache und der Inhalt nur notweniges Material ist, um dem Ritus sinnliche Wahrnehmbarkeit zu verleihen.

Nun fragt der kritisch mitdenkende Leser natürlich, warum ich dann nicht Priester geworden bin, wenn das so sehr meinen Neigungen entspricht und es sogar eine Kirche gibt, die all das praktiziert, was mich so fasziniert und in dem ich sozusagen meine spirituelle Erfüllung finden könnte.

Die Antwort darauf war mir lange selbst nicht klar, ich hatte nur einen eher diffusen Vorbehalt, der sich aus der Gegenperspektive ergab: als Gläubiger in der Kirche zu sitzen und mir von einem Pfarrer das moralische Leitwerk für mein Leben vorbeten zu lassen erschien mir schon immer mehr als unwürdig für einen erwachsenen Menschen.

Für Gewöhnlich glaubt man ja die Dienstleistung der Kirchen darin zu sehen, dass sie der Gemeinde eine spirituelle Betreuung zukommen lässt und darüber eine soziale Verbindlichkeit erzeugt, innerhalb derer die Menschen Sicherheit finden und allerlei unbequeme Fragen, beispielsweise nach dem Tod oder dem Sinn des Lebens, mit einer zwar inhaltsleeren aber emotional offenbar befriedigenden Antwort bedient werden. In Wahrheit ist aber das, was die Kirchen geben, das exakte Gegenteil von Spiritualität. Sie umnachten statt zu erleuchten. Davon ausgenommen ist allerdings der Pfarrer oder Priester. Zumindest potentiell. Denn er muss ja, um die spirituellen Fragen abzuwürgen, ihrer gewärtig sein. Und er muss ihre Brisanz erkennen, denn sie ist der Grund für das Abwürgen. Der Pfarrer ist der Schleier vor dem Bildnis zu Saïs. Er ist im Grunde der einzige Erleuchtet in der Gemeinde, aber er ist das nur deswegen, weil seine Aufgabe ist, die Erleuchtung von seinen Schäfchen fern zu halten!

Was hier für den Pfarrer oder Priester gilt – zumindest potentiell – gilt eigentlich für alle spirituellen Lehrer und Gurus: sie sind es nicht, die ihrer Gemeinde zur Spiritualität verhelfen, sondern es ist die Gemeinde, die dem Priester bzw. dem Guru zum Ausleben seiner Spiritualität verhilft. Und es ist dies eine besonders intensive und wahrscheinlich auch erfüllende Form spirituellen Lebens. Nicht zuletzt weil es eine Form der Spiritualität ist, die ohne Aufgabe des eigenen Egos möglich ist. Denn der soziale Status eines Pfarrers, Priesters oder Gurus ist in seiner Zielgruppe herausragend. Der Preis dafür ist allerdings, sich mit Menschen zu umgeben, die bereit sind, sich im Dienste des Gurus zumindest teilweise ihrer Individualität zu entäußern und statt eigener Erleuchtung nur am Erleuchtet-Sein ihres spirituellen Führers zu partizipieren.

Vielleicht ist es eine Marotte, aber ich war nie bereit, diesen Preis zu zahlen. Nicht zuletzt, weil ich die Gesellschaft solcher Menschen nicht sehr schätze, aber auch, weil ich es für ethisch fragwürdig halte. Also decke ich meinen Bedarf an Pathos und Zeremoniell mit Musik. Und bezeichnenderweise habe ich vor knapp einem Jahr damit begonnen, Orgel zu spielen. Dahinter mag man durchaus neben musikalischen Motiven auch die oben beschriebene Sehnsucht nach der rituellen Aura der Kirche vermuten. Es löst sich damit aber vielleicht auch ein lange herumgetragener innerer Widerspruch auf originelle und zumindest für mich sehr genussreiche Weise auf!

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