Du kannst nicht nicht politisch sein

Jetzt, wo Putin den letzten Rest seiner Maske hat fallen lassen und wir schockiert vom Krieg auf europäischem Boden sind, werden eiligst allerlei Kontakte zu Russland abgebaut. Nicht nur mit Sanktionen, die selbstverständlich geboten sind und nach meiner Einschätzung noch weit drastischer sein dürften, sondern auf allen Ebenen, mehr oder weniger freiwillig: Sowohl Import als auch Exporte privater Unternehmen werden eingeschränkt oder gar ausgesetzt, Unternehmen wie McDonalds schließen ihre Betriebe in Russland. Der Schokoladenhersteller „Ritter Sport“ steht in der öffentlichen Kritik, weil er weiterhin Schokolade nach Russland liefert.

Gut so! Will man meinen. Was immer Putin schwächt, stärkt den Frieden. Doch warum eigentlich erst jetzt? Und warum nur in Russland? Wenn eine Lehre aus diesem Krieg ist, dass wir uns nicht von russischem Öl und Gas abhängig machen dürfen, d.h. von Öl und Gas aus einem antifreiheitlichen Land, das Menschenrechte mit Füßen tritt, dann gilt das doch nicht nur hier, sondern generell! Vor der Eskalation des Überfalls auf die Ukraine wurde uns die wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland als „Einbindung Russlands“ und Nordstream-2 als ein ganz und gar unpolitisches Projekt verkauft. Doch wie wir gelernt haben ist es das nicht. Es war schon immer hochgradig politisch. Für uns, vor allem aber für Putin!

Die wirtschaftlichen und auch die kulturellen Verflechtungen, wie sie z.B. in Form der EU und auch in den transatlantischen Kooperationen gepflegt werden, sind fraglos Teil einer fruchtbaren Friedenspolitik. Aber diese „Einbindung“ muss auch eine „Bindung“ enthalten, d.h. es muss Bedingungen geben, unter denen sie stattfinden kann, so wie es sie beispielsweise für den Beitritt zur EU gibt. Wenn wir Schurkenstaaten einfach nur einbinden, ohne sie nach ihrer politischen Verfassung zu befragen, und glauben, wir könnten Kultur, Ökonomie und Politik voneinander trennen, dann läuft das wie aktuell beobachtbar darauf hinaus, dass nicht wir den Schurkenstaat einbinden, sondern dass dieser uns abhängig macht und unser Entgegenkommen als Schwäche zu seinem Vorteil nutzt. Die UNO gibt ein anschauliches Beispiel für diese Strategie ab: Das hohe Ideal, alle Nationen der Welt gleichberechtigt und bedingungslos einzubinden, hat eine Institution hervorgebracht die zu einem völkerrechtlichen Lobbyistenverein der Schurkenstaaten degeneriert ist und die deswegen auch im aktuellen Krieg absolut unsichtbar und handlungsunfähig ist, obwohl die erste Adresse zur Bekämpfung des russischen Überfalls wäre, wenn man den in ihrer Charta angegebenen Zielen glauben wollte:

„den Weltfrieden und die internationale Sicherheit zu wahren und zu diesem Zweck wirksame Kollektivmaßnahmen zu treffen, um Bedrohungen des Friedens zu verhüten und zu beseitigen, Angriffshandlungen und andere Friedensbrüche zu unterdrücken und internationale Streitigkeiten oder Situationen, die zu einem Friedensbruch führen könnten, durch friedliche Mittel nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit und des Völkerrechts zu bereinigen oder beizulegen“

(Charta der Vereinten Nationen, Kapitel I – Ziele und Grundsätze, Artikel 1, https://unric.org/de/charta/#kapitel1)

Egal was wir tun, ob es Investitionen im Ausland, Auslagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer, Importe oder Exporte, Fußballweltmeisterschaften oder Olympische Spiele sind: wir handeln damit immer auch politisch und müssen die politischen Folgen dieses Handelns einberechnen. Zumal wenn wir es mit Regimen wie dem russischen von Putin zu tun haben, das nicht erst seit dem 24. März sein wahres Gesicht zeigt.

Wenn wir jetzt also keine Schokolade mehr nach Russland liefern wollen und alle ökonomischen und sogar kulturellen Kontakte mit Russland abbrechen, auch wenn das keinen unmittelbaren Einfluss auf den Krieg hat, dann müssen wir uns auch fragen, inwiefern wir diese und ähnliche Kontakte vor dem Hintergrund der aktuellen Erfahrungen mit anderen fragwürdigen Regimen aufrecht erhalten können, allen voran mit China, ohne uns langfristig und latent in die selbe Lage zu bringen, in der wir jetzt mit gebundenen Händen zusehen müssen, wie eines unserer europäischen Nachbarländer abgeschlachtet wird.

Wir können nicht unpolitisch sein, das ökonomische Handeln jedes einzelnen Privatunternehmens und jedes einzelnen Konsumenten ist immer auch ein politisches Handeln und wir können diese Dimensionen bei unseren Entscheidungen nicht ausklammern und so tun, als würden wir mit China „nur Handel treiben“. Es ist nicht nur Aufgabe der Politiker, bei diplomatischen Besuchen in China die Menschenrechte anzusprechen und nationale Importe wie Öl oder Gas so zu verteilen, dass keine Abhängigkeit entsteht, es ist auch Aufgabe jedes Einzelnen, diese Menschenrechte in jede Kaufentscheidung einzubeziehen und sich zu fragen: welche politischen Strukturen werden durch meine Investition gestärkt?

Das ist kein Aufruf zum Boykott – auch ich besitze fast notwendigerweise Produkte aus China und wahrscheinlich auch aus Russland – sondern es ist ein Aufruf, sich der politischen Folgen des eigenen Handelns bewusst zu werden, sich nicht einzureden, man könne politisches, ökonomisches und kulturelles Handeln voneinander trennen, und ein Aufruf, als politische Gemeinschaft den postmodernen pazifistischen Relativismus aufzugeben und sich einzugestehen, dass nicht jedes politische System seine Berechtigung hat, dass nicht jede Meinung, auch wenn sie geäußert werden darf, unsere Toleranz erfahren muss, dass Frieden und Freiheit nicht dadurch gesichert werden, dass wir Kriegstreibern gegenüber friedlich sind und Tyrannen die Freiheit lassen, Völker zu unterdrücken, sondern dass Frieden und Freiheit gegen ihre Feinde verteidigt werden müssen. Notfalls mit Gewalt und notfalls mit Freiheitsentzug – so wie das auch innenpolitisch in Form von Polizei, Gericht und Strafvollzug selbstverständlich ist – aber auch lange davor, indem man sein Handeln neben allen anderen Kriterien immer auch auf seine politischen Folgen und die politischen Strukturen hin befragt, die man damit stärkt.

Die Ukrainer zahlen einen hohen Preis dafür, dass wir endlich unsere außenpolitische Naivität in Bezug auf Putins Russland überwinden. Es ist zu hoffen, dass wir das bei anderen Ländern, allen voran China, nicht mehr so sträflich verschlafen und nicht noch eine friedliche Nation unserer selbstgefälligen Ignoranz opfern.

Bildquellen

Harald Hoyer from Schwerin, Germany, CC BY-SA 2.0 , via Wikimedia Commons

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