Meine anthroposophische Privatsekte

Spirituelle Aufklärung 2

Die Form von Anthroposophie, in der ich aufwuchs und die ich mir dann als junger Erwachsener aktiv ausstaffierte, ist nach außen zunächst keine besonders enge und restriktive Weltanschauung. Sie mag unkonventionell und absurd wirken, aber sie gab sich durchaus freiheitlich und aufgeklärt. Meine Eltern haben mich weder missioniert noch weltfremd erzogen. Ich hatte eine ganz normale und schöne Kindheit. Als Waldorfschüler kam ich in den Genuss vieler der positiven Errungenschaften der Anthroposophie. Und der Drang nach Freiheit und geistiger Emanzipation lebt ja durchaus in Steiners Werk, was nicht zuletzt dazu führte, dass Steiners Freiheitsphilosophie für mich mit ein Auslöser für den Ausstieg aus meinem anthroposophischen Dogma war.

Aber dieser freiheitliche Gestus der Anthroposophie verdeckt auch oft eine tiefer liegende Schicht an Dogmen, die den Lebensalltag prägten, ohne direkt ausgesprochen worden zu sein oder gar in Verboten und Regeln gefasst zu werden. Das inspirierende Pathos der Anthroposophie verband sich in meiner Sozialisierung mit der kruden Ethik und Moral protestantisch-pietistischer Christlichkeit. Daraus resultierte eine relativ alltagstaugliche, weil auf letztlich konventionellen Prinzipien basierende Weltanschauung, die ihre Normen nicht durch Regeln und Verbote, nicht durch starre Formen, sondern geradezu waldorfpädagogisch über Nachahmung, Einbindung, Begeisterung und Identifikation durchsetzte. Durch den Freiheitsduktus der Anthroposophie stürzte sich mein jugendlicher Idealismus geradezu euphorisch auf diese Normen und adaptierte sie als vermeintlich autonome Überzeugungen.

Nicht alles war schlimm, aber hinter der bunten und oft auch freizügigen Welt anthroposophischer Lebensart steckten als Selbstverständlichkeit tradierte ethische und moralische Rammböcke. Arbeitsethik, Leistungsmoral, Lustfeindlichkeit, Leid- und Schmerzkultur, Jenseitsglaube, Subordination, Anstand und Sitte, Altruismus, Prüderie, Pflicht, Normalität… All dies war auf anthroposophische Inhalte ausgelegt und uminterpretiert, im Kern unterschied es sich aber nicht von den traditionellen Werten insbesondere der protestantischen Ethik. Der Sinn des Lebens war das Dienen – nicht Gott, sondern der Anthroposophie. Das anthroposophische Endziel, dass wir einst alle werden wie Rudolf Steiner – allgütige, allwissende, vergeistigte Eingeweihte – das war das selbst gesetzte Leistungsdiktat. Dass es eine bodenlose Anmaßung war, zu glauben, dieses Ziel tatsächlich zu erreichen und mehr als nur ein Millionstel des Weges in der gegenwärtigen Inkarnation zurücklegen zu können, war das Büßerhemd. Die Peitsche war der als heilige Pflicht empfundene Entwicklungspfad, auf dem die gesamte Beschäftigung mit der Anthroposophie zur Katharsis wurde, zur Übung, zur Reifung durch Arbeit (man las Bücher nicht, man „arbeitete“ sie!). Gerade Schmerz und Leid galten als besondere Pfade der Tugend und wurden im seelischen Bootcamp meiner Anthroposophie freudig empfangen. Ganz im Kantschen Sinne, dass nichts wahrhaft gut sein kann, solange es noch Lust bereitet.

So war zum Beispiel Sex nur in seiner unumgänglichen Grundform geduldetes und nie thematisiertes Übel und alle Varianten sexueller und körperlicher Lust, die um ihrer selbst Willen kultiviert werden, wurden tabuisiert. SM und Fetischismus ebenso wie Sauna, FKK oder übermäßiges Make-Up. Was sich auf den Körper bezog, wurde als vulgär ausgeklammert. Reiner Spaß an der Freud‘ wurde als primitive Unkultur gebrandmarkt. Erfreuen durfte man sich nur an Dingen, die einen zugleich „weiter brachten“. Stets dräute im Hintergrund der Schulungspfad und wenn man sich doch auch mal an niederen Dingen delektierte, die nicht Teil der anthroposophischen Wertewelt waren, so war man sich zumindest deutlich bewusst, dass man gerade vom Pfad abwich, seine Lebenszeit verschwendete und danach umso mehr üben musste, um den Rückstand aufzuholen. Es gab keine äußere oder metaphysische Autorität, die einen dafür strafte. Das war auch nicht nötig, denn man strafte sich selbst zusammen mit dem anthroposophischen Kontext schon mehr als genug. Es gab einen ungeschriebenen Katalog der Gos und Nogos, was anthroposophically correct und incorrect ist. Was immer mir vor die Nase tritt, auch heute noch kann ich es zielsicher in diesen Katalog einordnen. Es ist ein so zutiefst verachtenswürdiger Moralkodex, der in schierer Schwarz-Weiß-Logik die Welt in zwei Teile bricht: in die anthroposophische und in die schlechte Welt. Das Bewerten aller Phänomene ist geradezu eine anthroposophische Zwangsneurose. Und dieser Kodex hat sicherlich individuelle Färbungen, aber im Kern ist er intersubjektives Gut bei einem beachtlichen Teil der anthroposophischen Szene.

Als Freiheits-Anthroposoph konfrontierte man aber nicht, man bekämpfte nicht und diskreditierte nicht offen; man strafte Unmoral durch Tabuisierung, sprach höchstens „unter sich“ offen darüber und pflegte so latente Vorurteile aller Art. Gegen Homosexualität, gegen Amerikanismus, gegen Juden, gegen vermeintlich rückständige Kulturen, gegen Materialisten, gegen Wissenschaftler, gegen Fußball, gegen die nichtanthroposophischen Nachbarn, gegen Leistungssport, gegen Popkultur, gegen Rockmusik, im Grunde gegen jede Form von individueller Lebenslust und unprätentiösem Mainstream. Die Vorurteile wurden nicht als offene Diskriminierung formuliert, sondern immer als Diagnose einer Abweichung vom anthroposophischen Ideal und letztlich eines irgend karmischen Entwicklungsdefekts. Am Ende wurden sie mit der Höchststrafe belegt: mit Mitleid und womöglich der Absicht, Hilfe zu leisten!

Das anthroposophische Weltbild, diese persönliche Geisteswelt von Rudolf Steiner, auf die ein unmittelbarer, nicht über das Schrifttum zu erschließender Weg nur theoretisch möglich war, weil er praktisch immer an der oben geschilderten Pflicht zur Selbstverachtung scheiterte, bot in ihrer teilweisen Bezogenheit auf die christliche Mythologie ein reichhaltiges Sammelsurium, um diese protestantischen Tugenden mit spirituell wirkendem Überbau zu versehen. Die Fülle und die lebendige Offenheit der Steinerschen Gedanken machten es möglich, jede noch so krude ethische Verirrung in die Anthroposophie zu importieren und so sein konventionelles, traditionelles Weltbild mit neuen Farben und zugegebenermaßen attraktiveren Aussichten, aber im Kern unverändert weiter zu pflegen. Problemlos konnte man seinen Dualismus in den gröbsten pseudosinnlichen Vorstellungen von der „geistigen Welt“ pflegen und den naivsten Heilserwartungen an dieses Jenseits nachhängen. Und die Anthroposophie als vermeintlicher Backstagepass zu dieser Geistwelt war der Münchhausengriff um diesen Dualismus als Monismus, diesen voraufgeklärten christlichen Idealismus als aufklärerische Freiheitsphilosophie missverstehen zu können. Das Protestantische Christentum ist nicht die einzige Weltanschauung, die in der Anthroposophie ihre Modernisierung sucht. Die Anthroposophie wird von den unterschiedlichsten Heilserwartungen inkorporiert, wodurch sie oft ein eigenes, über die Ebene schierer Religiosität hinausgehendes Profil verliert. Der anthroposophische Anspruch, überreligiös zu sein, verirrt sich in der Realität, jede Form von Religion zu adaptieren und so am Ende zu einer Art Universalreligion zu werden. Im Vergleich zu sich bekriegenden Einzelreligionen wäre das zwar schon ein Fortschritt, im Vergleich zu den spirituellen und wissenschaftlichen Ansprüchen der Anthroposophie ist es aber absolut disqualifizierend.

Wohlgemerkt, ich spreche hier im Wesentlichen von MEINER Anthroposophie, wie ich sie im Kontext meiner Sozialisierung und aus meinem eigenen Idealismus heraus konstruiert und erlebt habe. Dass ich „man“ statt „ich“ schreibe, illustriert die Tatsache, dass ich diese meine Anthroposophie als intersubjektive Selbstverständlichkeit aufgefasst hatte. Ich wurde darin allerdings von meiner anthroposophischen Umwelt auch nicht widerlegt. Ich bin also überzeugt, dass ich kein Einzelfall bin, aber was ich hier schildere, ist dennoch nur eine Möglichkeit, Anthroposophie (miss-) zu verstehen. Es ist kein objektives oder allgemeingültiges Bild der Anthroposophie. Und wäre ich ein weniger zu philosophischen Fragen neigender Mensch, hätte ich wahrscheinlich weder so viel Idealismus in die Erschaffung dieser Missgeburt gesteckt, noch am Ende so viel Energie gebraucht, um mich daraus zu befreien, sondern hätte die positiven Sozialisierungseinflüsse genutzt und mich von den negativen emanzipiert. Allein der Blick in die nächste Verwandtschaft zeigt, dass dies unter ganz ähnlichen Sozialisierungsbedingungen offenbar möglich ist.

Das fatale an dieser Weltsicht ist nicht nur, dass ich ganz freiwillig darin lebte und glaubte, eigenen Überzeugungen zu folgen und den wahren Pfad gefunden zu haben. Fatal ist, dass die Anthroposophie es zuließ, sich dabei auch noch für besonders unkonventionell, besonders frei, besonders originell, besonders individuell, besonders liberal zu halten. So konnte noch nicht einmal eine Konfrontation mit aufklärerischen Idealen zur Emanzipation anregen, weil ich mich dieser Ideale bereits inne wähnte und sie so überhaupt nicht als Konfrontation erlebte.

Eine autopoetische Hirnwäsche, die perfekte Ein-Mann-Sekte!

Kommentar schreiben

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.