Meine Gottwerdung

Das Folgende ist ein Artikel, den ich 2009 für die Zeitschrift Info3 geschrieben habe und den ich hier verfügbar mache, damit nicht in Vergessenheit gerät, wie es dazu kam, dass Gott Atheist wurde…

Naiver Atheismus

In der 5. Klasse besuchte ich für ein Jahr das evangelische Gymnasium der Herrnhuter Brüdergemeine in unserem Nachbarort. Als einmal im Rahmen des Religionsunterrichtes eine ökumenische Exkursion zur örtlichen katholischen Kirche durchgeführt wurde, die symbolträchtig neben dem „Gottesacker“ am äußersten Rand dieses puritanisch-pietistischen Musterdörfchens lag, da wurde ich unterwegs von einem Mitschüler plötzlich gefragt, ob ich an Gott glaubte.

Ich bin in einem evangelisch-anthroposophischen Elternhaus aufgewachsen. Die Wahl des Wohnortes hatte nichts mit den benachbarten Herrnhutern zu tun, allenfalls mit dem angesehenen Gymnasium, das ich aber zugunsten der von meinen Eltern mitgegründeten Waldorfschule nach einem Jahr wieder verließ. Ich bin in christlicher Tradition, liberal und keinesfalls strenggläubig, wohl aber religiös und christlich in einem allgemeinen und in einem speziell anthroposophischen Sinne aufgewachsen. Kirchenbesuche waren Einzelereignisse bei Hochzeiten, Taufen, Konfirmationen und einmal auch – eine Art Experiment – zu Weihnachten.

Die Frage meines Mitschülers erschien mir damals nicht nur völlig absurd, so absurd als hätte er mich gefragt, ob ich an die Existenz der Schule oder an Tannenbäume glaubte. Sie erschien mir auch gekünstelt: Der Begriff Gottes als Inbegriff einer höheren Intelligenz, einer der sinnlichen Welt übergeordneten zentralen Instanz, war für mich notwendiger Teil des Begriffssystems, das ich Wirklichkeit nannte, so dass ich keine Möglichkeit sah, darauf zu verzichten, ohne in Absurdität zu verfallen. Natürlich konnte ich das damals nicht formulieren, ich konnte einfach mit der Frage nichts anfangen.

Nun haben sich meine Ansichten zu Gott seither radikal geändert. Ich kann mich heute auch problemlos als Atheisten bezeichnen. Aber das Gefühl der Absurdität, das ich damals angesichts der unbedarften Frage meines Klassenkameraden hatte, taucht immer wieder auf, wenn es um Diskussionen zwischen Theismus und Atheismus geht. Der Naivität eines persönlichen Schöpfergottes, der die Welt und uns Menschlein von seinem Wolkenthron herab hegt und pflegt, steht eine nicht minder naive Vorstellung der Atheisten entgegen, die über die Existenz Gottes so reden, als handle es sich um eine hinter dem Mars versteckte Teekanne. Und so konsterniert, wie ich damals dem Schüler gegenüber stand, so konsterniert stehe ich heute intelligenten Atheisten gegenüber, die gegen die Windmühlen eines völlig infantilen Gottesbegriffes ankämpfen und dabei die offensichtlichsten philosophischen und metaphysischen Implikationen ignorieren.

Nicht nur mein eigener ehemaliger Gottesglauben sondern in hübscher Symmetrie dazu auch die kulturgeschichtliche Tatsache eines ganz selbstverständlichen Umgangs mit dem Glauben an Gott und Götter stellt mich doch vor die Frage, ob das tatsächlich nur schiere Unvernunft und Naivität ist, oder ob hinter diesem Gottesbegriff nach Abzug allzu naiv-positivistischer Vorstellungen des Allmächtigen nicht doch ein Sinnsystem zu entschlüsseln ist, das mit der Wirklichkeit kongruiert.

Emotionaler Atheismus

Ich kann keinen eindeutigen Zeitpunkt angeben, an dem ich Gott wurde. Aber es gibt einige Ereignisse, die entscheidende Schritte dazu darstellten. Das erste Ereignis – nach der Frage meines Mitschülers – war wahrscheinlich der Konfirmationsunterricht in jener Herrnhuter Kirche, in den ich aus mir unerfindlichen Gründen geschickt wurde. Das naive, abstrakte, positivistische und letztlich haarsträubend materialistische Gottesbild, das dort gelehrt wurde, hatte so überhaupt nichts mit dem zu tun, was ich mit dem Begriff „Religion“ verband. Ein einfacher Straßenmusikant besaß für mich mehr Sakralität als das Auswendiglernen der Kapitelbezeichnungen der Bibel und die mit idiotensicheren Schaubildern von fragwürdigster Ästhetik garnierte Westentaschenpsychologie, mit der versucht wurde, einen bei der Angst und beim Gewissen zu packen und im demütigen Glauben an den Allmächtigen die Lösung für jedwede Art von Leid und Übel zu propagieren. Schon damals regte sich die Frage, ob ein Allmächtiger so allmächtig sein kann, wenn er so einen großen und durchaus hinterlistigen Aufwand treiben muss, nur um uns auf einen langweiligen, aber rechten Weg zu führen? Ich war 13 Jahre alt und schwieg und ließ den Unterricht über mich ergehen. Die Lehrer merkten dies und versuchten mich in persönlichen Gesprächen wohl zu „retten“, aber ich wusste, dass das, wovon sie sprachen, nicht Gott war sondern ein Popanz und dass ich dem, was für mich Gott hieß, ohne diese Kirche näher war als mit ihr.

Mein freichristlicher, auch durch die Anthroposophie geprägter spirituell-pantheistischer Glaube begleitete mich auch noch in mein Studium der Philosophie hinein, bis ich während meines Auslandsstudiums in Italien Nietzsche las, insbesondere seinen Zarathustra. Und ich gelangte in diesem Italien, wo sich kurioserweise extremster Katholizismus und extremste linksmaterialistische Traditionen begegnen, zu etwas, das ich als emotionalen Atheismus bezeichnen möchte: die radikale und bekenntnishaft vorgetragene Auflehnung Nietzsches, die sich eher gegen Kirche und Religion als gegen einen differenzierten Gottesbegriff richtete. Er protestierte gegen die demütige Unterwerfung des Individuums unter eine nur vorgestellte und gegen den Menschen instrumentalisierte Macht. Dieser Protest riss mich mehr in seiner Stärkung des Individuums als in der Negation Gottes mit. Was mich emotional ansprach, war der radikale und bis in die Metaphysik hinein konsequente Individualismus, die Auflehnung des autonomen Individuums gegen jede Art von Macht und Herrschaft über es. Dieses streitbare Individuum braucht aber keine Beweise gegen Gott, es tötet ihn und negiert ihn durch das schiere Einfordern seiner eigenen Autonomie. Ich war von Nietzsches Hammer getroffen.
Zurück in Berlin geriet ich dann durch eine spontane Entscheidung in ein Seminar zur Theodizee, dem noch zwei weitere folgen sollten. Ich beschäftigte mich also intensiv mit der Frage, wie es zusammenpasst, dass ein angeblich allmächtiger, allweiser und allgütiger Gott so etwas wie das Böse und die Übel in seiner Welt zuließ. Eine Paradoxie, die natürlich nur für einen theistischen Standpunkt entsteht und in der sich nicht nur die Abstraktheit und Absurdität der dahinter stehenden Gottesvorstellung spiegelt, sondern auch jenes Gottesbild eines heuchlerischen, unwürdigen, selbstgefälligen und gemeinen Gottes, gegen den sich die Tiraden der Nietzsche’schen Polemik richten. Mit dem Studium der Theodizee verband sich aber dann auch die Beschäftigung mit den vielfältigen Gottesbeweisen und ihren ebenso vielfältigen Widerlegungen.

Theoretischer Atheismus

Das Bild Gottes verblasste in mir zu einer reinen Metapher. Nach der emotionalen Auflehnung und dem Scheitern Gottes vor dem Gericht meines Verstandes blieb Gott nur noch als Gegenbegriff meiner Entwicklung zum autonomen Individuum und freien Geist. Jenen Anteil meiner selbst, der von dieser Autonomie noch nicht ergriffen war, bezeichnete ich im Bilde als göttlichen Urgrund, aus dem heraus das autonome Individuum sich entwickelt und den es in dieser Entwicklung aufhebt und übersteigt. Dieser Gott war die Projektion und Verobjektivierung jener Teile des Bewusstseins, die man psychologisch vielleicht als Unterbewusstsein bezeichnet.

Bei Kindern zeigt sich sehr anschaulich, wie seelische Erfahrungen und Qualitäten zwecks Handhabung objektiviert und in eine scheinbare Außenwelt verlegt werden: Der Angst kann das Kind im Bilde des Wolfes besser begegnen als einem abstrakten und mangels sprachlicher Differenzierung unidentifizierbaren Akt der Innerlichkeit. Räuber, Feen, Zwerge und Engel, der Haulehuck und der Nachtkrab sind Wesen, die nichts anderes darstellen als das Innenleben des Kindes und die dieses Innenleben für die noch undifferenzierte Reflexion des Kindes kommunizierbar und handhabbar machen. Selbstverständlich sind sie als solche aber nur Provisorien, die im Laufe der Entwicklung einer abstrakten und die Innerlichkeit unmittelbar benennende Kommunikation weichen. Gleichwohl scheint es aber so, als profitiere Letztere bei ihrer Ausbildung gerade von möglichst intensiven bildhaften Vorläufern.
In einer ganz ähnlichen Weise musste ich Gott als den Inbegriff einer solchen Projektion und Objektivierung verstehen. So wie Kinder ihr Seelisches, beispielsweise ihre Angst, nach draußen in das objektivierte Bild des Wolfes projizieren, so ist Gott auf anderer Ebene das objektivierte Bild meines innersten Wesenskernes und meines umfassendsten Seins als Mensch. Und wie dieses Bild dem Kinde als provisorisches Instrument im Umgang mit seiner Innerlichkeit eignet, so mag es auch Etappen der Kulturgeschichte geben, die sich mit Gewinn dieser Provisorien bedienten. Darüber zu urteilen ist müßig. Als Atheist, der ich damit geworden war, entschied ich aber, auf diese Handhabe verzichten zu können. In diesem Sinne musste ich den Gottesbegriff, wie er mir in den religiösen Glaubensbekenntnissen meiner Umwelt begegnete, als eine kulturelle und bewusstseinsgeschichtliche Retardierung in die Infantilität betrachten, nicht ohne den Argwohn einer machterhaltenden institutionellen Instrumentalisierung.

So wenig wie mich der evangelische Konfirmationsunterricht mit diesem Gottesglauben erreichte, so wenig erreichte mich allerdings auch der sich humanistisch nennende Atheismus, wie er in populärer Weise heute zum Beispiel von Richard Dawkins vertreten wird. So sehr ich seiner streitbaren Auflehnung gegen den unbegründeten Anspruch auf Deutungshoheit der Kirchen und gegen den absurden gesellschaftlichen Respekt vor Religion zustimme und seine Forderung nach einer Beweislastumkehr zugunsten der rationalen Voreinstellung des Atheismus teile, so sehr ist aber der Gottesbegriff, gegen den er kämpft und den er glaubt, naturwissenschaftlich widerlegen zu können, von dem positivistischen Jenseitsglauben des naiven Theismus geprägt.

Die Frage, ob Gott existiert oder nicht, kann nicht wissenschaftlich entschieden werden, weil Wissenschaft, insbesondere Naturwissenschaft, auf der Prämisse ruht, dass Gott nicht existiert. Das gilt zumindest soweit, als unter Gott der Schöpfer und Erhalter des Universums verstanden wird, der nach Belieben über dieses Universum verfügt und z. B. mit Wundern in den Lauf der Natur eingreifen kann. Und es gilt zumindest soweit, als unter Wissenschaft diejenigen Disziplinen verstanden werden, die auf rationalen Prinzipien und Methoden beruhen. Sollte die Wissenschaft die Existenz Gottes auch nur als Hypothese zulassen, so müsste sie zugleich die Hypothese zulassen, dass Kausalität keine unbedingte Gesetzmäßigkeit ist sondern unter bestimmten Bedingungen – z. B. bei Wundern oder bei der Erschaffung der Welt – ausgesetzt sein kann. Unter diesen Bedingungen wäre aber Naturwissenschaft, wie wir sie kennen, hinfällig. Sie verlöre ihr oberstes Prinzip. Sollte Gott aber in jenem Sinne verstanden werden, dass er als Schöpfer auch über Kausalität und ähnliche Konstanten unserer wissenschaftlichen Natur- und Wirklichkeitsauffassung verfügt, dann wäre es doppelt absurd zu glauben, man könne seine Existenz auf Basis dieser Konstanten beweisen oder widerlegen. Wenn also Richard Dawkins den Atheismus als prinzipiell wissenschaftlich beweisbare Theorie bezeichnet, so hebelt er damit implizit genau jene Wissenschaft aus, auf die er so nachdrücklich schwört: diese Frage ist wissenschaftlich so wenig beweisbar wie die Frage, warum a = a gilt und nicht a = ¬a. Beides sind nicht Ergebnisse, sondern Prämissen für Wissenschaft.

Der Agnostizismus schließt aus diesem Umstand, dass die Frage überhaupt nicht entschieden werden kann. Der Theismus hingegen schlägt vor, statt eines wissenschaftlichen Beweises ersatzweise den Glauben als Rechtfertigung einzusetzen und ihm in dieser Frage eine zwar nicht gleichartige, aber doch gleichwertige Autorität zu geben. Theologie ist mithin nichts anderes als die Behauptung, eine Wissenschaft qua Glaube auf Basis von explizit unwissenschaftlichen Prinzipien betreiben zu können. Will man aber den Glauben nicht als letzte Instanz in dieser Frage anerkennen, und will man sich mit der Enthaltung des Agnostizismus nicht zufrieden geben, dann muss man den Positivismus, der beide Seiten prägt, übersteigen. Und dies bedeutet insbesondere, die absurde Frage nach der Existenz Gottes fallen zu lassen.

Das atheistische Credo „Es gibt keinen Gott“, das mit naturwissenschaftlicher Nüchternheit, aber auch mit einer gewissen philosophischen Naivität die Existenz einer Projektion zum Zankapfel macht, kann ich zwar in seiner positivistischen, die rein empirische Ebene betreffenden Bedeutung durchaus unterschreiben, doch die geeignete Form, meinen Atheismus kundzutun, fand ich in einer Formel, die jene Projektion als Faktum mit einschloss und die Existenzfrage transzendiert. Und so lautete mein atheistisches Credo schließlich „Ich bin Gott“. Nur schiere Spitzfindigkeit wird hier in der Verwendung des Wortes „Gott“ im Prädikat eine versteckte Existenzbehauptung sehen. „Ich bin Gott“ bedeutet vorläufig nichts anderes, als die im Vorstehenden dargestellte Projektion.

Existenzieller Atheismus

Mit diesem Atheismus und der doch auch ironischen Formel „Ich bin Gott“ war ich aber noch lange nicht am Ende meiner Gottwerdung. Nicht nur meine Umwelt, auch ich selbst glaubte mir nicht, dass ich „wirklich“ Gott sei – und zwar insbesondere, weil Zweifel angemeldet wurden an der notwendigen Schlussfolgerung, ich hätte dann auch die Welt erschaffen. Das Verräterische an diesem Argument, in dem ich zuallererst mir selbst begegnen musste, ist aber der darin versteckte Theismus.
Denn „Ich bin Gott“ soll nicht nur auf so etwas wie einen göttlichen Funken im Ich weisen oder metaphorisch meinen geistigen Wesenskern beschreiben. Es soll wörtlich aufgefasst werden als die Erkenntnis, dass ich jene Funktion innerhalb der Welt innehabe, die im religiösen Glauben Gott zugeschrieben wird. Und es ist insofern eine mystische Variante des normalen Atheismus, der an die Stelle Gottes die Naturgesetze, den wissenschaftlich erforschbaren Aufbau der Welt, die rein kausale und gleichwohl faszinierende und begeisternde Funktion des Kosmos setzt. Denn der Myste sieht die Gründung der Welt nicht draußen in irgendwelchen abstrakten Gesetzen, sondern er sieht sie in sich selbst, insofern er sich nicht als irgendein Ich-Homunkulus in einem Körper versteht, sondern insofern er sich als den eigentlichen Schauplatz dessen begreift, was man im allgemeinsten Sinne als Welt bezeichnen kann. „Ich bin Gott“ ist das Bekenntnis eines Bewusstseins, das sich nicht nur in einer geschaffenen Welt zu einem Göttlichen entwickeln will, sondern das sich als Schöpfer der Welt versteht, weil die Welt nur als Bewusstsein von dieser Welt zur Realität kommen kann. Was wir als Welt bezeichnen ist, weil wir es erleben und nicht anders darüber verfügen denn als Erleben, das Ergebnis einer Bewusstseinsleistung eines Bewusstseins, das als Teil derselben Welt ebenso in dieser Leistung besteht und mit ihr erst anhebt zu sein. Dass der Inhalt dieses Erlebens eine Existenz habe, die außer uns liegt, ist letztlich unsere Vorstellung und schon Teil der kreativen Bewusstseinsleistung. Mithin ist aber die Vorstellung einer von uns unabhängigen Objektwelt, wie sie die Naturwissenschaft konstatiert, nichts anderes als jene Form von Projektion und Objektivierung eines Bewusstseinsaktes, aus dem auf anderer Ebene auch der Gott des Theisten entsteht.

Der mit mir herumgetragenen Idee „Ich bin Gott“ folgte daher keineswegs Selbstüberschätzung und Hybris, sondern eine Erfahrung, die in ganz existenzieller Weise mit dem Erlebnis von Einsamkeit verbunden war. Mit dem Verschwinden der Vorstellung einer höheren Intelligenz und Macht, die sich in dem Begriff  „Gott“ konzentriert, und mit dem Verschwinden einer ganz analog dazu verstandenen, von mir unabhängigen Außenwelt verschwanden auch all jene Vorstellungen, die der Welt einen über die bloßen physikalischen Prozesse und die bloß materielle Existenz hinaus gehenden Sinn verleihen. Ich erlebte in dieser Zeit tatsächlich die sinnliche Außenwelt wie Theaterkulissen, die Substanz vorgaukelten, wo nur Leere war, und deren Bedeutung bei näherem Hinsehen zu nichts zerfielen. Ich erlebte die Welt nicht einmal mehr als Materie, sondern nur noch als sinnliche Erscheinung, die nichts weiter war, als eben eine Erscheinung. Ein radikalerer Atheismus ist im Grunde nicht denkbar: Ich hatte mit dem alten Gott alles, was meinen Wahrnehmungen einen über die schiere Wahrnehmung hinausgehenden Sinn verlieh, verloren und fand mich allein in einer Welt, die sich in ihrer Wahrgenommenheit erschöpfte und in der ich der Einzige war und die ganz und gar meine Welt, mein Eigentum war. Und dies war keine Idee oder Schlussfolgerung, sondern mein Erleben. „Ich bin Gott“ ist die radikalste Form des Gotteszweifels, sie ist existenzieller Atheismus, der nicht nur eine über die Natur hinausgehende, übernatürliche Macht leugnet, sondern der auch schon die Natur, ja jedes von mir selbst unabhängige Dasein leugnet.

Spiritueller Atheismus

Dieses Erlebnis, das sich in verschiedenen Etappen über mehrere Jahre immer veränderte, mündete in eine Absolutheitserfahrung, die weder mit dem Satz „Ich bin Gott“ noch mit irgendeinem anderen Satz adäquat beschrieben werden kann. Sie umfasst diesen Satz durchaus, geht aber weit darüber hinaus und es ist in dieser Absolutheitserfahrung gleichgültig, ob ich „ich“ oder ob ich Gott bin. Der Atheismus, der aus dieser Absolutheitserfahrung entsteht, ist so radikal, dass er nicht nur Gott leugnet, sondern selbst dieses Leugnen leugnet. Es ist ein agnostischer Atheismus. Nicht im Sinne des Agnostizismus, der sich eines Urteils über die Existenz Gottes enthält, sondern in jenem Sinne, dass ich mich weder für den Glauben noch für den Nicht-Glauben, weder für das Urteil über die Existenz noch für ein Sich-des-Urteils-Enthalten entscheiden muss. Der Atheismus, der Gott leugnet, ist entweder ein negativer Theismus, der gleichsam in der Leugnung Gottes sich einen neuen, nur im Modus der Abwesenheit existierenden Gott erschafft, oder er ist ein naiver Positivismus, der den Begriff Gottes überhaupt nicht zu denken in der Lage ist, sondern von Gottes Existenz so spricht, als handle es sich um jene durchs All rasende Teekanne oder ein beliebiges anderes Objekt der Welt der Erscheinung – jener Welt also, die dem Theismus zufolge in Gott und durch Gott erst existieren soll. Beide diese Formen des Atheismus sind aber durch die Formel „Ich bin Gott“ bereits transzendiert.

Denn während der materialistische Atheist sich in seiner naturwissenschaftlichen Objektivitäts-Vorstellung nichts anderes schafft als was der Theist in seinem Gottesbild vor sich hinstellt – nämlich ein verschlüsseltes und entäußertes Bild seiner eigenen Tätigkeit –, erkenne ich als Gott diese Tätigkeit unmittelbar als die meine und nenne daher auch die aus ihr entstehende Welt mein Eigentum. Nur so ist die Leugnung Gottes vollständig, weil sie aufzeigt, wo jene Funktionen zu suchen sind, die der Theist Gott zuschreibt. Die Erschaffung der Welt beispielsweise. Denn sie ist trotz aller Faszination für die Evolution nicht aus der Natur heraus zu erklären. Natur setzt immer schon ihre eigene Existenz voraus. Nicht zuletzt ist auch die Kausalität, das goldene Kalb der Naturwissenschaft, vom Vorhandensein einer Ursache abhängig. Will ich Gott, wie es der Atheist ex negativo macht, auf der Ebene der Natur finden, dann muss ich ihn als die erste und damit nicht verursachte Ursache verstehen. Dem widersprechen die Axiome der Natur. Will ich die Kausalkette den Axiomen folgend ungebrochen lassen, dann muss ich einen Anfang und damit auch die Existenz der Natur leugnen oder ich muss, wie der Theist, einen Erschaffer jenseits der Natur annehmen.

Wie ich mich so in Paradoxien verstricke, merke ich nicht, dass ich selbst es bin, welcher der Natur ihre Kausalität verleiht: Ich betrachte die Phänomene erst als Natur, indem ich sie unter dem Prinzip der Kausalität ordne. Es ist mein Begriff der Kausalität, der die Natur als Natur erschafft und sie als eine objektive aus mir hinaus projiziert. Ihren Anfang findet sie in mir, weil ich sie erst als Natur erschaffe. Und sie erscheint mir nur deswegen rätselhaft, weil ich sie, wie der Theist seinen Gott, zur besseren Handhabung nach draußen und mir gegenüber versetze. Ich mache sie zum Rätsel, um sie entdecken zu können und schließlich als mein eigenes Bewusstsein zu integrieren. Das alles bin natürlich nicht ich als Person. Als solche Person unterliege ich dem selben Umstand wie die Natur. Es ist „ich“ als jenes Bewusstsein, das sich in der Erschaffung dieser objektiven Außenwelt als Gegenstück zum Gegenstand erlebt, das im Konstruieren und durch das Konstruieren erst zum Subjekt wird.

Ich brauche weder Gott noch Natur, um die Welt zu erschaffen oder zu erklären: ich selbst erschaffe und erkläre sie in einem. In diesem Sinne bin ich Atheist. In diesem Sinne bin ich aber auch Gott. Ich schaffe die Welt und gebe ihr meinen Sinn: sie ist mein Eigentum und in ihr bin ich Gott. Der religiöse Gottesbegriff ist am Ende nichts anderes als die Projektion meines eigenen konstruierenden Bewusstseins in eine Außenwelt; in eine natürliche und von vielen Göttern bevölkerte in den Naturreligionen, in eine metaphysische und auf einen einzigen Gott abstrahierte in den monotheistischen Religionen. So glaube ich draußen vorzufinden, was nur mein eigenes Wesen ist. Die Allmacht Gottes ist das projizierte Abbild meines Eigentums an meinem Bewusstsein und also an der Welt. Der barmherzige und gütige Gott ist die Kompensation meiner Einsamkeit und Einzigkeit. Der gebietende und richtende Gott ist das Abbild meines Willens. Der Schöpfergott ist die Projektion meines konstruierenden Bewusstseins.

Die Frage nach der Existenz Gottes löst sich auf im Akt meiner Individualität. Den sich um eine Absurdität streitenden Theisten und Atheisten rufe ich zu: Gott existiert und Gott existiert nicht! Er ist mein Geschöpf und mein Abbild. Ich habe ihn geschaffen, um mich in ihm zu erkennen. Und dann habe ich ihn getötet, um mich in mir zu erkennen. Und ich bin auferstanden zum ewigen Leben, in dem Gott und ich nur Strohpuppen im Spiel des Geistes sind.

Über das Titelbild

Das Titelbild zeigt das Deckengemälde "Der Palast des Windes" von Salvador Dalì im Dalì-Museum in Figueres (Spanien).

Bildquellen

Sarfoto/Depositphotos.com

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