Taiwan: Wer ist der Frosch?

„Today, the world faces a choice between autocracy and democracy.“

(Nancy Pelosi, 3.8.22 in Taipei)

Die Freude der Taiwanesen über den Besuch der Sprecherin des Repräsentantenhauses und damit dritthöchster Amtsinhaberin der USA, Nancy Pelosi, heute in Taipeh ist verhalten. So sehr Taiwan die Unterstützung der USA wünscht und braucht, und so sehr das Land ohne die USA an ihrer Seite heute nicht existieren würde – wir kennen das… – so brisant ist dieser Besuch dennoch.

Taiwan ist de facto und nach allen völkerrechtlichen Kriterien ein souveräner Staat mit einer stabilen Demokratie, mit freier Presse, Rechtsstaat, Wohlstand und regen Auslandsbeziehungen in Kultur und Wirtschaft. De jure wird Taiwan aber nur von einer Handvoll wenig einflussreicher Staaten anerkannt und ist kein Mitglied der UNO.

Der Grund dafür ist die Volksrepublik China, die Taiwan als Teil ihres Territoriums betrachtet. Dieser angesichts der faktischen Unabhängigkeit Taiwans eigentlich abwegige Anspruch ist Staatsziel der Volksrepublik und die Nichtanerkennung Taiwans ist Grundbedingung für alle diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen mit dem Ausland (s. Video unten für weitere Hintergründe). So hat sich seit dem Rauswurf Taiwans (als Republik China) aus der UNO eine zweigleisige Politik etabliert, in der sowohl Taiwan als auch seine Verbündeten den Anspruch Chinas formal respektieren, tatsächlich aber Taiwan wie jeden anderen unabhängigen Staat behandeln, solange der formale und protokollarische Anschein gewahrt bleibt.

Der Besuch von Pelosi ist aufgrund ihres hohen Amtes aber geeignet, diesen Anschein zu gefährden und dementsprechend gereizt hat China reagiert. Wie schon öfter in der Vergangenheit bei ähnlichen Besuchen oder bei den ersten freien Wahlen in Taiwan 1996 lässt China Manöver vor Taiwan abhalten und demonstriert militärische Stärke. Und anders als 1996 hat China mittlerweile eine hochgerüstete Marine, die der amerikanischen in manchen Bereichen nur wenig nachsteht. Schon länger versucht Chinas Marine – getarnt als harmlose Fischerboote – mit subversiven Annexionen von Kleinstinseln im Südchinesischen Meer ihre Dominanz auszubauen. Die instabile Weltlage durch den russischen Krieg in der Ukraine trägt ebenfalls zur Gereiztheit bei.

In dieser Situation sieht man in Taiwan in dem Besuch Pelosis nicht nur eine Geste der Solidarität, sondern auch die Gefahr, dass diese „Provokation“ die sensible Balance der zweigleisigen China-Politik aus dem Gleichgewicht bringen und eskalieren könnte. Zumal bislang nicht deutlich geworden ist, welchem konkreten Ziel der Besuch über die Symbolik hinaus dienen soll. Taiwan lebt mit dem Status Quo sehr gut und hat kein Interesse, ihn zu ändern, solange das auch nur den Hauch einer Gefahr bedeutet. Auch wenn es völlig absurd ist, einen Staatsbesuch als Provokation anzusehen, so ist es dennoch für China ein willkommener Vorwand, die Lage zu eskalieren. Denn es ist erklärtes Ziel Chinas, Taiwan zu annektieren. Und das ist nach derzeitiger politischer Lage ohne Gewalt nicht möglich. Insofern ist es pragmatisch, das Gesicht der Chinesen zu wahren und ihnen ihren symbolischen Fetisch zuzugestehen, solange damit keine tatsächlichen negativen Auswirkungen auf das Leben in Taiwan verbunden sind.

Andererseits zeigt uns der russische Krieg derzeit in unerträglicher Brutalität, was passiert, wenn wir Autokraten zugestehen, die roten Linien der Weltpolitik zu definieren, nur um sie selbst permanent zu überschreiten. Schon die klare Zusage Bidens im Mai diesen Jahres, Taiwan im Falle eines chinesischen Angriffs beizustehen, hat in China für Aufregung gesorgt und der Besuch Pelosis unterstreicht das noch einmal. Es ist auf kurze Sicht für Taiwan sicherlich gefährlich, hier mit dem Feuer zu spielen. Auf der anderen Seite wird Taiwan in einer Welt, in der Autokraten wie Putin oder Xi eine rote Linie nach der anderen mit militärischer Gewalt und unwidersprochen überschreiten, eines der ersten Opfer sein.

Die „Zeitenwende“, die am Anfang des Krieges noch beschworen wurde, ist vor allem die bittere Erkenntnis, dass die Appeasement-Politik und die Politik der Einbindung von Schurkenstaaten in politische und wirtschaftliche Netzwerke massiv gescheitert ist. In Wirklichkeit wurden die Autokraten weder befriedet noch eingebunden, sondern sie nutzten das Entgegenkommen, um sich zu stärken, um sich zu militarisieren, um ihren hybriden Einfluss auf demokratische Gesellschaften auszubauen und in kleinen Schritten die Toleranzgrenze der freiheitlichen Staatengemeinschaft auszuloten, zu strapazieren und langsam zu erweitern. Wie der sprichwörtliche Frosch im sich langsam erhitzenden Wasser ohne Gegenwehr den Tod erleidet, so stehen wir seit Jahrzehnten erstarkenden und sich radikalisierenden autokratischen Systemen gegenüber, deren erklärtes Ziel es ist, den Wertekanon einer pluralistischen, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Gesellschaft zu zerstören, und wir ignorieren im Glauben an das Gute die objektiv messbare Eskalation der Methoden.

Den Spieß umzudrehen würde bedeuten, damit aufzuhören, diesen gezielten Eskalationen gegenüber mit Toleranz und Entspannungspolitik zu begegnen. „Der Klügere gibt nach“ ist ein schönes Kalenderblatt, aber keineswegs eine Universalweisheit. Gehen wir, ohne uns mit deren barbarischen Methoden gemein zu machen, gegen diese Eskalationen an! Seien wir es, die rote Linien verschieben, und zwar nach hinten! So sehr die Übergriffe je einzeln von Putin & Co. bewusst in einem begrenzten Ausmaß gehalten und mit allerlei spitzfindigen Vorwänden versehen als notwendige Reaktion auf eine angebliche Provokation ausgegeben werden, so sehr steigert sich dieses Ausmaß von Mal zu Mal und werden die Vorwände von Mal zu Mal absurder und respektloser.

Vor diesem Hintergrund könnte Pelosis scheinbar unmotivierter Besuch als „Gegenschlag in Salamitaktik“ verstanden werden, mit dem in ebenso gezielt maßvoller Provokation eine rote Linie ein paar Millimeter zurückgeschoben wird, ohne einen wirklichen Grund zur Eskalation zu geben. Denn faktisch ist auch dieses Mal China nicht über große Worte und Muskelspiele hinausgegangen. Und Taiwan kann trotz aller Gefahren dieses Besuchs für sich verbuchen, dass die USA sich damit erneut in die Pflicht gestellt haben, im Eskalationsfall auch zu handeln.

Ich weiß nicht, ob das tatsächlich Pelosis Motive sind. Aber ich denke es ist längst Zeit, den Spieß umzudrehen und die autoritären Säcke zum Frosch im heißen Wasser zu machen, statt selbst darin zu verrecken. Und jeder, der mich kennt, weiß, dass ich ein persönliches Interesse am Wohlergehen Taiwans habe und weder bei der Ukraine noch bei Taiwan ein Bauernopfer auch nur ansatzweise in Erwägung ziehen würde.

Aber wir haben als Weltgemeinschaft, die seit Jahrzehnten die Zeichen der Zeit verschlafen hat, jetzt wenigstens die Pflicht, das Mögliche zu tun, um langfristig eine Katastrophe zu vermeiden. Denn eine Welt unter der Führung von Putin-Russland und Xi-China ist keine Welt, in der ich leben will. Und auch die Taiwanesen, die jetzt Pelosi verständlicherweise protestierend empfangen haben, wollen in so einer Welt nicht leben. Sie wird aber unvermeidlich kommen, wenn wir nicht unnachgiebiger, strategischer, intoleranter und in manchen Fällen auch militärischer gegen die langfristige Bedrohung unserer sensiblen freiheitlich-demokratischen Ordnung vorgehen.

Weiterführende Links zum Thema:

Grundlagen zum Hintergrund des China-Taiwan-Konflikts:

Zum völkerrechtlichen und juristischen Status Taiwans als unabhängiger Staat:
https://de.wikipedia.org/wiki/Rechtlicher_Status_Taiwans

Über das Titelbild

Das Titelbild zeigt den Sonne-Mond-See (日月潭) in Taiwan, aufgenommen von Shui-she (水社) aus. Der Sonne-Mond-See liegt auf 760 Metern Höhe in den Bergen der Region Nantou. Die erhabene Lage des Sees, die Berge und die feuchte subtropische Luft sorgen für eine einzigartige Atmosphäre.

Bildquellen

Titelbild: C. Grauer - Alle Rechte vorbehalten

2 comments

  1. So ist es. Eine nicht unwesentliche Frage wird sein, ob wir, wenn es drauf ankommt, bereit sind, etwas tiefer in die Tasche zu greifen und/oder länger auf unsere Konsumgüter zu warten.

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