„Möglicherweise ist die Vorstellung falsch, dass man Kindern etwas beibringen muss. Eltern sollten sich fragen: Wie hat das Kind das Allerschwerste gelernt, nämlich Sprechen und Laufen? Da war auch keine Schule da!“
Gerald Hüther, Hirnforscher (http://www.kleinezeitung.at/lebensart/familie/erziehung/5123489/)
Vor Jahren las ich in einer Architekturzeitschrift ein Zitat, dessen Urheber ich leider vergessen habe, das sinngemäß sagte, die Krise zeitgenössischer Architektur liege darin, dass moderne Architektur mit hässlicher Architektur assoziiert würde. Gemeint war damit nicht, dass die Ästhetik moderner Architektur grundsätzlich hässlich sei – die großen Werke moderner Architektur aus dem 20. Jahrhundert (es ist schon einige Zeit her, dass ich das Zitat las) sind von herausragender Ästhetik – sondern dass diese Ästhetik in der alltäglichen Gebrauchsarchitektur zu einem entseelten, technokratisch verkümmerten Schematismus verkommen ist, der den ästhetischen und sozialen Bedürfnissen des Menschen in krasser Weise entgegensteht. Und die Hässlichkeit, die in dieser alltäglichen Konfrontation mit den degenerierten Plagiaten eines eigentlich aus rein ästhetischen Prinzipien erschaffenen Architekturstils empfunden wird, überträgt sich auch auf die Originale und überlagert den ästhetischen Eindruck, den sie auf ein unbefangenes Auge haben müssten.
Gelegentlich einer angeregten Diskussion über Pädagogik wurde ich aufgefordert, meine grundsätzliche Kritik an unseren Schulformen darzulegen und es wurde mir bei aller zugestandenen Unvollkommenheit der grundsätzliche Erfolg unseres Bildungssystem und allerlei Vorzüge schulischen Lernens vorgehalten. Und nicht zuletzt auf das Argument, dass in Entwicklungsländern die Kinder geradezu euphorisch die seltene Möglichkeit schulischer Bildung in Empfang nehmen, konnte ich zunächst keine Antwort finden.
Denn in der Tat habe ich mich als Vater eines Schulkindes und als nebenberuflich Unterrichtender immer wieder gefragt, warum unsere Schüler den Wert der Bildung, das große Privileg, das sie im Vergleich zu solchen Kindern in Entwicklungsländern genießen, nicht nur nicht erkennen, sondern es geradezu als sein Gegenteil, als eine Zumutung betrachten.
Und da fiel mir das Zitat des Architekten wieder ein, weil das, was für die Architektur gilt, ganz ähnlich auch für die Schule gilt: Das Problem an Schule ist, dass sie im Allgemeinen und grundsätzlich als etwas gilt, das keinen Spaß macht! Und so wie Freunde moderner Architektur das Missfallen des normalen Menschen an moderner Architektur gerne seiner Ignoranz zuschreiben, so schreiben auch Freunde moderner Schulen die fehlende Freude und Motivation der Schüler schlechter häuslicher Erziehung, dem negativen Einfluss von Konsum und Medien oder anderen im Schüler begründeten Faktoren zu. Was aber, wenn wir das Problem wie bei der Architektur nicht im Konsumenten derselben, sondern in ihr selbst zu suchen haben? Was wenn Schule sich in ähnlicher Weise trotz grundsätzlich positiver Prinzipien im Alltag als ein entseelter, technokratisch verkümmerter Schematismus darstellt, der den mentalen und sozialen Bedürfnissen der Schüler von Grund auf entgegensteht?
Das Kind im Entwicklungsland – vorausgesetzt es handelt sich auch da nicht nur um ein romantisches Narrativ – lechzt nach Schule, weil es die Folgen der Abwesenheit von Bildung tag täglich am eigenen Leib erfährt, weil es mit Schule die aus ganz konkreter und schmerzlicher Erfahrung geborene Hoffnung auf ein besseres Leben verbindet. Aber mit welcher Hoffnung verbindet ein Schüler im Industrie- und Wohlfahrtsstaat die Schule?
Es ist keine Frage, dass Bildung das höchste Gut ist, das einem heranreifenden Menschen mit ins Leben gegeben werden kann. Daran zweifelt niemand, zumindest nicht, wenn er selbst Bildung erfahren hat. Doch wenn dieses höchste Gut bei seiner Vermittlung statt Wertschätzung und Euphorie nur Missfallen und Motivationslosigkeit erzeugt, wenn es statt Spaß nur Übellaunigkeit erzeugt, dann scheint an der Darreichungsform etwas Grundsätzliches nicht zu stimmen. Denn es ist nicht davon auszugehen, dass Kinder in Entwicklungsländern prinzipiell andere mentale und soziale Entwicklungsbedürfnisse haben als Kinder in Industrieländern. Und immerhin verbringen unsere Kinder bis zu 13 Jahre lang verpflichtend einen Großteil ihres Lebens in der Schule. Das erfordert gute Gründe, sehr sehr gute Gründe sogar!
Wenn also das ästhetische Empfinden des Menschen – und damit ist mehr gemeint als nur ein paar formale visuelle Kriterien, auch mehr als die anheimelnde Nostalgie vertrauter Muster: Damit ist die komplexe mentale und soziale Wirkung von Architektur auf das Leben des Menschen gemeint, die er mit Sympathie und Antipathie intuitiv erfasst – wenn also dieses ästhetische Empfinden der Maßstab für gute Architektur ist – und das ist es – dann ist der Maßstab für gute Bildungsvermittlung der Spaß, den Schüler daran haben. Und das heißt nicht, dass alles, was Spaß macht, auch schon Bildungsvermittlung sei – auch nicht alles was schön ist, ist Architektur – sondern dass Bildungsvermittlung, die keinen Spaß macht, schlechte, um nicht zu sagen keine Bildungsvermittlung ist!
Statt sich also zu überlegen, wie wir Schüler für die Bildungsvermittlung motivieren können, sollten wir vielmehr nachdenken, ob und wie wir Bildung so vermitteln können, dass es Spaß macht. Und zwar wirklich Spaß, nicht nur in den Augen der Pädagogen und in den Lernzieldefinitionen akademischer Lernkonzepte, sondern sich dergestalt darstellend, dass Schüler sich morgens euphorisch darauf freuen, in die Schule zu gehen. Wer Erstklässler bei der Einschulung erlebt hat, weiß, wovon ich rede. Aber allein dass uns diese Vorstellung bei einem Neuntklässler schon fast lächerlich absurd vorkommt, zeugt davon, in welchem Maße unsere Schulformen in einer fatalen Krise stecken.
Dass die allgemeine eherne Regel gilt: Schule macht keinen Spaß! ist kein Defizit der Schüler, sondern eines der Schulen! Doch wie lässt sich das ändern? Wie kann man Bildung so vermitteln, dass es Spaß macht, wirklich Spaß mach? Diese Frage ist weit schwieriger zu beantworten. Insbesondere lässt sie sich nicht theoretisch, schon gar nicht im Rahmen eines Blogposts beantworten, sondern nur durch wissenschaftliche Forschung, praktische Erfahrung und konkrete Versuche. Wer Unterricht auch nur annähernd aus der Praxis kennt, ahnt, dass dafür grundlegende Änderungen und höchst anstrengender Aufwand betrieben werden muss. Es geht dabei nicht nur um ein paar lustige Bildchen in den Lernmaterialien oder die Verwendung jugendsprachlicher Youtube-Videos, es geht um eine völlig neue Herangehensweise an Unterricht, an Arbeitsformen, an Fächerkonones, an Zeiteinteilung, an Lernzielkontrolle, an Lehrer-Schüler-Beziehungen, an Lehrmittel und Lernorte, an Ergonomie und Learn-Life-Balance, wenn man so will.
Dass eine sich verändernde Gesellschaft andere Bildungsinhalte erforderlich macht, dass für erfolgreiches Leben in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts andere Kompetenzen erforderlich sind als sie es für das 20. Jahrhundert waren, vielmehr noch als sie es für das 19. Jahrhundert waren, aus dem nach wie vor so viele der expliziten oder latenten Grundüberzeugungen unseres Bildungssystems stammen, ist nur die eine Seite. Die andere Seite ist, dass diese veränderte Gesellschaft, ob uns das gelegen kommt oder nicht, auch die mentale und soziale Verfassung von Kindern und Jugendlichen verändert hat und diese heute mit völlig anderen Voraussetzungen und Bedürfnissen die Schule besuchen als noch vor 100 Jahren.
Hinzu kommen all die neueren wissenschaftlichen Erkenntnisse insbesondere aus der Entwicklungspsychologie und der Neurophysiologie, nach denen viele angestammte Methoden, die nach wie vor praktiziert werden, längst überwunden sein müssten. Dazu gehören an vorderster Front das über längere Zeiträume Sitzen auf zu kleinen Stühlen, insbesondere in den unteren Klassen, die vermeintliche Motivationsförderung durch leistungsbasierte Sanktionen und negativen Input, die Entfremdung vom Lerninhalt durch unbeeinflussbare und kollektive Vorgaben durch Lehrer bzw. Lehrplan, didaktisch Wertlose Hausaufgaben, die Überbetonung intellektueller Kompetenzen zu Lasten von musischen, praktischen und sozialen Kompetenzen und die damit einhergehende Diskriminierung und Frustrierung von musisch, praktisch und sozial begabten Schülern, die Segregierung nach Bildungsvorsprung, die immer auch eine soziale Segregierung mit sich bringt, die Zerhackstückung der Lernfelder in isolierte Fächer und die damit verbundene Zerhackstückung des Tagesablaufs in Schulstunden. In keinem anderen Lebensbereich ist man je auf die Idee gekommen, sinnvolle und produktive Arbeit zu fördern, indem man sie im 45-Minutentakt unterbricht und das Hirn auf einen völlig anderen Zusammenhang ausrichtet. Und wo immer dergleichen aus praktischen Erfordernissen heraus notwendig ist, beispielsweise in der Agenda von Spitzenpolitikern, wird es als einer der gravierendsten Stressfaktoren beschrieben. Die Liste der Beispiele ist damit längst aber nicht vollständig!
Ich bin weit von dem Anspruch entfernt, ein Patentrezept für eine Schule zu haben, in der Bildung Spaß macht. Ich habe ein paar Ideen, kenne ein paar Problemfelder und die oben aufgezählten Notstände. Aber das sind nur Ansätze und die für mich offensichtlichsten Mängel. Ich habe keine hinreichende Antwort auf die Frage nach der Umsetzung und auch nur minimale praktische Erfahrung mit Versuchen dazu. Ich lasse das aber nicht als Einwand gelten! Notwendige Voraussetzung für jeden Schritt, der in dieser Richtung unternommen werden kann, ist zunächst diese Frage überhaupt zu stellen und den Spaß am Lernen nicht als Kollateralnutzen zu tolerieren, sondern als primären Maßstab und wichtigste Richtschnur für pädagogische Konzepte und Methoden zu erkennen, als Lackmustest für gelungenen Unterricht. Erst wenn wir uns darüber einig sind und in unserem Bewusstsein angekommen ist, dass eine Schule, die keinen Spaß macht, kein Normalzustand ist, sondern eine pädagogische Krise, wird es möglich, überkommene und in die Gewohnheit eingeschweißte Formen und Methoden auf dieses Ideal hin zu hinterfragen und notfalls zu revidieren. Dazu brauchen wir zuallererst ein Bewusstsein dieser Krise!
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