Der Mensch zwischen Spiritualität und Politik – eine Skizze

Spiritualität ist zunächst eine ganz private Sache. Natürlich wirkt lebendige Spiritualität in die Politik hinein. Und sie soll in die Politik hinein wirken. Aus der Spiritualität kann ein Mensch eine Haltung in die Politik (und auch in andere Lebensbereiche) mitnehmen, die dort entscheidend wirkt. Aber die Verbindung zwischen Spiritualität und Politik ist immer der Mensch. Die Wirkung geht über den Menschen und nicht direkt. D.h. aus spiritueller Praxis lässt sich keine politische Haltung ableiten. Spiritualität sagt uns nicht, welche Gesetze gut oder schlecht sind. Ihre Wirkung ist die auf den Menschen und dessen Haltung zur Politik. Und dann wird dieser Mensch seine politischen Ziele in einer Haltung vortragen und anstreben, die eine andere ist, als wenn er nicht aus einer spirituellen Erfahrung heraus spricht.

Spiritualität ist im Grunde der Inbegriff von Erfahrung. Sie ist die Essenz aller Erkenntnis und Erfahrung, aller Wahrnehmung und Empfindung. Nicht ein Komprimat all dieser Inhalte, keine Zusammenfassung alles Erkannten und Erfahrenen, sondern das von allen konkreten Inhalten befreite Wesen des Erfahrens, des Erkennens, Wahrnehmen und Empfindens. Es ist, ganz konkret, das Erleben des Erkennens (im Sinne all seiner genannten Ausprägungen) nicht durch die Versenkung in seine Inhalte, also in das Gedachte, in die konkrete Erkenntnis, sondern durch die Erhebung aus diesem Inhalt heraus in die Erfahrung der Erkenntnis als Momentum, als Akt, als Konfiguration meines Bewusstseins und damit seiner Seins- und Wesensbedingungen und seiner Relation zur Welt. Was sich so formuliert abstrakt und simpel anhört, ist in Wirklichkeit, also in der Erfahrung, ein komplexes und tiefgreifendes Erlebnis – oder besser gesagt eine komplexe und tiefgreifende Erlebnisebene, denn es ist nicht nur ein einmaliges Ereignis.

Diese Erfahrung, auch wenn sie im tatsächlichen Erleben eingebettet und vermischt sein mag mit Alltagselementen, ist in ihrer Eigentlichkeit so frei von jeglichen konkreten Inhalten und Bezügen, so auf die Grundbedingungen des Seins und des Bewusstseins gelenkt, dass sie schlechterdings keinen inhaltlichen Bezug zu konkreten Problemen der Gegenstandswelt, geschweige denn zu tagesaktuellen politischen Problemen hat. Jeder Bezug zwischen spirituellen Erfahrungen und Alltagswelt ist stets nur durch den Menschen, den jeweils einzelnen, konkreten Menschen gegeben. Die spirituellen Erfahrungen sagen ihm nicht, wie er zu handeln habe. Nicht auch nur im Mindesten. Aber sie machen etwas mit ihm, das ihn verändert, das seine Haltung verändert, und das so indirekt auch auf seine politischen und sonstigen Alltagsentscheidungen wirkt. 

Wenn also jemand kommt und glaubt, aus spiritueller Erfahrung heraus beispielsweise politische Ziele formulieren zu können, oder wenn er glaubt, bestimmte politische Ziele seien nicht kompatibel mit spiritueller Erfahrung, dann verwechselt er spirituelle Erfahrung mit persönlichen oder eben mit politischen Präferenzen. Um es so radikal wie möglich zu sagen: Ich behaupte, dass selbst Menschen wie Hitler, Osama Bin Laden oder Anton Breivik spirituelle Erfahrungen gehabt haben könnten und dennoch so handelten, wie sie handelten. Denn die spirituelle Erfahrung hat nicht nur keinen direkten Bezug zu Inhalten der Alltagswelt, sie hat auch keine moralische Dimension. Nicht jeder hat sie, aber sie ist prinzipiell für jeden zugänglich und sie stellt sich jedem unabhängig von seiner moralischen oder sonstigen Verfassung dar. Sie entscheidet nicht darüber, ob er moralisch oder unmoralisch handelt. Viel weniger noch entscheiden sie darüber, ob er diese oder jene politische Richtung favorisiert. Spirituelle Erfahrungen verändern die Haltung eines Menschen, aber nicht seine inhaltlichen Überzeugungen. Die ändern sich durch Inhalte, durch Alltagserfahrungen und Alltagserkenntnisse (wozu ich hier auch Wissenschaft etc. zähle). Um es konkret zu sagen: Man wird nicht konservativ oder liberal durch spirituelle Erfahrung. Man wird nicht ökologisch, sozialdemokratisch oder rechtsradikal durch spirituelle Erfahrung. Seine politischen Überzeugungen zieht man aus seiner Alltagserfahrung. Wenn es eine Korrelation zwischen spirituell interessierten Menschen und bestimmten politischen Überzeugungen gibt, dann führt diese in umgekehrter Richtung, d.h. bestimmte politische Überzeugungen stehen in einem Kontext, der spirituelle Themen – aus welchen Gründen auch immer – als anstrebenswert betrachtet. Umgekehrt lässt sich aber keine Korrelation ableiten. Ich bin überzeugt, dass selbst grausamste und allgemein als absolut unmoralisch geltende Menschen bisweilen durchaus einer spirituellen Erfahrung teilhaftig geworden sind. Und so, wie sie die menschliche Tiefe eines ökologisch denkenden Menschen vertiefen kann, so kann sie auch die unmenschlichen Abgründe eines solchen Menschen vertiefen. 

Das heißt natürlich nicht, um gleich die dämlichsten Missverständnisse auszuräumen, dass spirituell interessierte Menschen nicht politisch denken und arbeiten könnten, dürften oder sollten. Es gibt ja durchaus Szenen, in denen ein solcher Imperativ durchgereicht wird! Selbstverständlich kann und soll er. Aber er muss seine politischen Überzeugungen politisch und nicht spirituell begründen. „Muss“ nicht im Sinne eines Gebotes, sondern im Sinne einer Notwendigkeit aufgrund der oben dargestellten Freiheit der Spiritualität von allen alltagsbezogenen Inhalten.

Weiterhin heißt das auch nicht, dass spirituelle Praxis nicht in den Alltag integriert werden kann und soll. Nichts hindert daran, die Sitzung eines politischen Gremiums mit einer Meditation zu beginnen. Aber nicht, weil das ein politischer Inhalt wäre oder daraus irgendwelche politische Ideen resultieren, gar Eingebungen vom Himmel fallen. Sondern weil es für die teilnehmenden Menschen wie Essen und Trinken ein Bedürfnis und eine Voraussetzung ist, ihre Arbeit professionell, mit Hingabe und Qualität zu erbringen. 

Der Weg der spirituellen Erfahrung in den Alltag führt immer und ausschließlich über das Bewusstsein des einzelnen Menschen, über das konkrete Individuum. Er ist die unumgängliche Schnittstelle. Und in dieser Funktion der Schnittstelle nicht nur zwischen Spiritualität und Alltag, sondern auch zwischen Reiz und Reaktion, zwischen Wahrnehmung und Handeln, liegt das ihm eigene Moment der Freiheit. Diese Schnittstelle zu überspringen und direkt aus spirituellen Erfahrungen politische Konzept abzuleiten oder sie damit zu begründen, benimmt den Menschen seiner Freiheit und stößt die Gesellschaft in voraufgeklärte Konzepte einer auf höheren Mächten und Wahrheiten basierenden Autorität zurück, die sich sowohl einem wissenschaftlich-objektiven als auch einem demokratischen Diskurs entziehen. Denn beide haben keinerlei Zugriff auf spirituelle Erfahrungen. Überhaupt gibt es keine intersubjektive Dimension der spirituellen Erfahrung. Sie ist im höchsten Maße individuell und Gegenstand der höchsten Form der Freiheit des Menschen. 

3 comments

  1. Sehr einverstanden, nur ein Minimecker: die drei Ge
    nannten können spirituelle Erfahrungen gehabt haben und – nicht nur dennoch, sondern möglicherweise deswegen/auch dadurch verstärkt – so gehandelt haben wie sie gehandelt haben, kommt auf die Art der spirituellen Erfahrung and und die Art der Person die sie hat.

  2. In Bezug auf das Verhältnis von Politik und Spiritualität absolut nachvollziehbar, was du schreibst. Eine Dimension der beschriebenen und sehr nachvollziehbaren spirituellen Erfahrung bleibt mir aber nach wie vor rätselhaft.
    „Spirituelle Erfahrungen verändern die Haltung eines Menschen, aber nicht seine inhaltlichen Überzeugungen.“ Soweit dies politische Überzeugungen betrifft, kann ich das nachvollziehen.
    „Es ist, ganz konkret, das Erleben des Erkennens … nicht durch die Versenkung in seine Inhalte … sondern durch die Erhebung aus diesem Inhalt heraus in die Erfahrung der Erkenntnis als Momentum … und damit seiner Seins- und Wesensbedingungen und seiner Relation zur Welt. “
    Die Erfahrung meiner Relation zur Welt als Momentum … also im Moment des spirituellen Erlebens mo… lässt mich eins werden mit dieser Welt. Stimmst du mir da zu?
    Bevor das nicht geklärt ist, kann ich den eigentlichen Einwand, den ich habe, nicht anbringen. Ich hoffe also auf eine Antwort auf diese Frage des Einswerdens mit der Welt.

  3. Liebe Vera, für gewöhnlich sagt man das, aber ich stimme dem so nicht zu. Das Problem ist, dass Erfahrung Trennung voraussetzt. Wir *sind* immer eins mit der Welt, aber wir *erfahren* sie immer nur in der Trennung. Ich nenne das letztere Unterscheidung und nicht Trennung. Das Alltagsbewusstsein pendelt zwischen Einssein – und nichts erfahren, d.h. im üblichen Sinne unbewusst zu sein – und Unterscheidung, d.h. objektiver Welterfahrung hin und her. Spirituelle Erfahrung richtet sich auf dieses Pendel und damit auf den Akt der Unterscheidung, aus dem Erfahrung hervorgeht. Das faszinierende ist nun, dass in der Erfahrung der Unterscheidung – und zwar nicht in der Erfahrung, die durch Unterscheidung erzeugt wird, also der Alltagserfahrung, sondern in der Erfahrung des Unterscheidens selbst – liegt zugleich auch die Erfahrung der Einheit, denn durch den Akt des Unterscheidens wird das Unterschiedene nicht nur unterschieden, sondern auch miteinander verbunden. Oder anders ausgedrückt: ich kann nur trennen, was verbunden ist. Diese Unterscheidung, nicht als philosophische Idee, sondern als Erfahrung, ist spirituelle Erfahrung. Alles andere ist Alltagserfahrung oder romantische Deko. Auch – falls Du darauf hinaus willst – der ganze anthroposophische Zinnober der höheren Welten. Das ist deswegen nichts schlechtes, aber es ist eben nicht Resultat spiritueller Erfahrung, sondern das Resultat von Alltagserfahrung und Reflexion. Das heißt nicht, dass spirituelle Erfahrung nicht hilfreich dafür sein kann, vielleicht sogar notwendig, aber sie ist selbst nicht das, was diese Inhalte liefert, zumindest nicht das, was diese Inhalte ihrem Inhalt nach bestimmt.

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