Es kommt bisweilen vor, dass einem die Lektüre eines richtig guten Romans oder einer schönen Novelle die Tränen in die Augen treibt. Aber bei einem Sachbuch? Ich glaube das ist mir noch nie passiert. Bis ich das Buch „Endlich frei“ gelesen habe. Nein, es ist kein Erweckungsbuch, kein spiritueller Berater und auch keine Anleitung, wie ich meinen Keller aufräume. Es erzählt vielmehr von einer Vision. Von der Vision einer Schule, die Kinder in völliger Freiwilligkeit erzieht. Das Buch breitet keine Theorien und pädagogischen Konzepte aus. Es schildert vielmehr ganz konkret den Alltag dieser visionären Schule. Wie die Schüler lernen, was sie machen, wie Entscheidungen getroffen werden, was aus den Schülern nach der Schulzeit wird, wie die Mitarbeiter arbeiten und welche Aufgaben sie haben.
Zugrunde liegt der Vision die Idee, dass Kinder freiwillig lernen, wenn man sie lässt. Und sie zu lassen heißt in dieser Schule, dass kein Kind zu irgend etwas gezwungen wird. Jedes Kind lernt was es will, wann es will und wie es will. Es gibt keine Schulstunden, keine Klassenzimmer, keine Pausen und keine Noten. Die Lehrer, die sich Mitarbeiter nennen, helfen den Kindern nur, wenn diese das ausdrücklich wünschen. Sie vereinbaren mit den Kindern die Modalitäten des Unterrichts und fordern dann auch Verbindlichkeit – pünktliche Teilnahme, Arbeitspensum etc. Aber es steht den Kindern frei, diese Modalitäten zu akzeptieren oder nicht. Sie sind nicht gezwungen, mitzumachen. Aber nicht nur das Lernen, auch die Verwaltung der Schule und der Schulgemeinschaft findet nicht über die Köpfe der Kinder hinweg, sondern gemeinsam mit diesen. Alle wichtigen Entscheidungen werden von einer Vollversammlung beschlossen, an denen jedes Schulmitglied, d.h. jeder Mitarbeiter und jeder Schüler teilnehmen kann und je eine Stimme hat. Die Mehrheit entscheidet. Für bestimmte Aufgaben – z.B. die Verwaltung der Bibliothek – werden Kommissionen oder Verantwortliche auf Zeit gewählt. Auch Schüler wohlgemerkt, nicht nur Mitarbeiter. Dabei wird dem Grundsatz gefolgt, so wenig wie möglich zu regeln und so wenig Kommissionen wie möglich abzustellen. Was sich von allein regelt, soll sich von allein regeln. Und schließlich gibt es noch eine Justizkommission, die im Rotationsverfahren besetzt wird – mit Schülern und Mitarbeitern – und die im Streitfall und bei Regelverletzungen zu schlichten und zu sanktionieren hat.
Das sind die Rahmenbedingungen. Spannend ist das Buch aber dort, wo beschrieben wird, wie die einzelnen Schüler mit diesem System umgehen und was erstaunliches dort alles möglich ist. Da gibt es tatsächlich Schüler, die ihre ganze Zeit darauf verwenden, zu Angeln. Oder die sich eine Dunkelkammer einrichten und sogar bei einem externen Fotolabor eine Ausbildung machen. Es gibt Schüler, die Mitarbeiter damit beauftragen, ihnen die Algebra beizubringen und die dies in wenigen Monaten mit enormem Fleiß bewerkstelligen. Freiwillig wohlgemerkt. Es gibt auch Schüler, die aus konventionellen Schulen wechseln, weil sie dort „auffällig“ wurden. Sie sitzen tatsächlich fast ein ganzes Jahr da und tun nichts. Und niemand kümmert es. Sie werden beobachtet, sie werden in die Gemeinschaft aufgenommen, aber sie werden weder gezwungen noch gedrängt noch auf subtile Weise verführt, doch endlich etwas zu tun. Man wartet, nicht ohne Furcht aber mit Überzeugung. Und irgendwann wird auch diesen Schülern das Nichtstun zu öde und sie beginnen etwas zu tun. Und sei es nur, auf der Wiese beim Baseball mitzuspielen. Den Anfang dieser erstaunlichen Geschichten macht eine Schülerin, die bereits die Schule verlassen hat und nun versucht, ohne Zeugnis, ohne Beurteilung sich an einer Hochschule zu bewerben. Und nicht irgendeine, sie will auf eine ganz bestimmte. Natürlich scheitert sie zunächst an den fehlenden Formalien. Aber sie gibt nicht auf, sie fragt sich durch, sie redet mit den Professoren, sie präsentiert sich, sie begründet ihre fehlenden Unterlagen, sie berichtet von ihrer Schule. Sie ist es nämlich gewohnt, Eigeninitiative zu entwickeln. Nichts anderes hat sie ihre gesamte Schulzeit gemacht. Und sie überzeugt die Hochschule schließlich und legt ein erfolgreiches Studium ab.
Die Lektüre des Buches hat mir das Leben und die Atmosphäre an einer solchen Schule so plastisch vor Augen geführt, dass es mir vorkommt, als wäre ich selbst dort gewesen und hätte mit eigenen Augen gesehen, wie Schüler den ganzen Tag tun, was sie wollen und dabei nicht nur alles lernen, was sie für ihr Leben brauchen, sondern vor allen Dingen den Weg in dieses ganz individuelle Leben finden, weil niemand ihnen etwas aufzwingt, weil sie frei sind, ihren Neigungen und Fähigkeiten zu folgen, weil sie Selbstbestimmung lernen und ganz besonders weil sie von Kindesbeinen an als Personen mit eigenem Denken und Wollen ernst genommen werden. Ich war beim Lesen dieses Buches wie in Trance, weil es das Bild einer Schule vor mich hinstellte, das ich in dieser konkreten und radikalen Form selbst zwar noch nie formuliert hatte, das aber in allen Details auf geradezu magische Weise all der Kritik, die ich an dem habe, was ich als Schule kenne, eine positive Auflösung gegenüber stellte. Diese Schule, die manchem Leser wahrscheinlich endlos weltfremd und extremistisch erscheinen mag, hat meine Überzeugungen im innersten getroffen und ich bin seither wie erlöst, weil ich weiß, dass ich mit meinen bis dahin durchaus vagen Ideen nicht allein bin.
Denn das erstaunlichste an diesem Buch verrate ich zuletzt: diese Vision einer freien Schule, die auf uns, die wir das preussische Schulwesen im Blut haben, wie eine wahnwitzige Spinnerei wirken mag, lebt nicht nur in den Köpfen von ein paar durchgeknallten Freiheitsfetischisten wie mir, sondern sie existiert wirklich. Und zwar schon seit 44 Jahren! 1968 wurde die erste Sudbury Valley School in Framingham im Staate Massachusetts (USA) gegründet und sie wirft seither jedes Jahr gesunde, durchschnittlich erfolgreiche Schüler in die Welt. Ohne sie zu irgend etwas gezwungen zu haben. Ist das wirklich wahr? Offenbar ja. Ich hätte es auch nicht geglaubt, hätte ich es nicht selbst gelesen. Lesen auch Sie es und überzeugen Sie sich, dass es seit 44 Jahren eine und mittlerweile mehrere Schulen gibt, die alle traditionellen und für unantastbar gehaltenen Prinzipien des Lernens und der Schulpädagogik Lügen strafen!
Links
Daniel Greenberg: Endlich frei!: Leben und Lernen an der Sudbury Valley Schule, Arbor-Verlag 2004
Website der Schule: www.sudval.org
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