Spirituelle Aufklärung 6
Wenn ich im Vorstehenden mein Bedauern darüber ausgedrückt habe, dass die Anthroposophie mir nicht den Weg zeigen konnte zu jener Dimension des Bewusstseins, die sich im Nichts aufgehoben erlebt, dann muss relativierend in Betracht gezogen werden, dass das Auffinden dieses Weges in so hohem Maße mit einer inneren Distanzierung und einer Relativierung der eigenen Vorkonfiguration einhergeht, dass es vielleicht geradezu unmöglich ist, aus einer intensiven anthroposophischen Sozialisierung heraus ohne eine gewisse Distanz zu dieser Sozialisierung einen solchen Weg zu finden. Die Emanzipation von meiner Anthroposophie war am Ende die Schlüsselbedingung dafür, diese „Tür“, die Anthropsophie zweifellos sein will und für Andere vielleicht auch ist, überhaupt zu sehen. In diesem Sinne war die Anthroposophie für mich der erwähnte Hüter der Schwelle, indem sie mich einerseits solange davon abgehalten hat, diese Tür zu finden, bis ich meinen eigenen Weg zu ihr gefunden hatte, mir gleichzeitig aber auch die Idee einer solchen Tür überhaupt erst verfügbar machte und mir auch ein begriffliches Instrumentarium an die Hand gab, meine Erfahrungen einzuordnen, zu deuten und am Ende überhaupt bemerken zu können. Und so erkenne ich heute in weiten Teilen des Werkes von Rudolf Steiner, ebenso wie in vielen anderen, diese Erlebnisschicht klar und deutlich wieder.
Das Wiedererkennen der Anthroposophie in jener unmittelbaren Erfahrung des reinen Bewusstseins ist aber weit entfernt von all jenen geschilderten anthroposophischen Vorurteilen, jenes intellektuellen und esoterischen Tsunami, den die Rudolf-Steiner-Lektüre andererseits auch über einen jungen Menschen hereinbrechen lassen kann. Aus heutiger Sicht habe ich mir die falschen Vorstellungen – oder in vielen Fällen fälschlicherweise überhaupt Vorstellungen – zu dem gebildet, was Steiner schreibt. Ich hege insofern keinerlei Groll gegen die Anthroposophie, sondern nehme die Verantwortung für die „Behinderung“, die sich für mich mit ihr verbunden hat, auf mich selbst und danke ihr zugleich für den Weg, den sie mir trotz alledem bereitet hat, und für den trotz aller Kontroverse beeindruckenden kulturellen Kontext, den sie als spirituelle Bewegung aufgebaut hat und bereit hält. Zugleich sehe ich aber die Problematik, die sich auf meinem persönlichen Weg mit der Anthroposophie verbindet, durchaus auch als ein systematisches Phänomen der Anthroposophie an. Denn obwohl Steiner in die höchsten Dimensionen anhaftungsfreier Spiritualität verweist, hat sich um diesen spirituellen Kern der Anthrposophie herum eine Art ideologischer Wall gebildet, der historisch gesehen einerseits vielleicht unumgänglich war, andererseits aber auch ihre Kontinuität sicherte in einer Zeit wie dem 20. Jahrhundert, in der, anders als heute, Spiritualität weitgehend für obsolet gehalten wurde und ein gesellschaftliches Schattendasein führte. Das vergleichsweise tiefe Eindringen der Anthroposophie in die praktische Alltäglichkeit und ihr wissenschaftlich-rationaler Anspruch machte sie alltagstauglich für ein modernes aufgeklärtes Bewusstsein, lenkte aber auch vom spirituellen Kern ab. Anders als in anderen spirituellen Ströumungen geht der Zugang zur Anthroposophie nicht notwendigerweise von einem spirituellen Erlebnis oder einer spirituellen Suche aus, sondern kann über ganz praktische, kulturelle und soziale Anknüpfungspunkte erfolgen und führt auch in vielen Fällen überhaupt nicht bis zum esoterischen Zentrum der Anthroposophie. Waldorflehrer, Therapeut, Heilpädagoge, Demeterlandwirt, Eurythmist etc. kann man letztlich ganz ohne eine spirituelle Fragestellung im eigentlichen Sinne werden, und auch ohne deswegen an Authentizität zu verlieren.
In diesem Bereich ist Anthroposophie keine spirituelle Ströumung, sondern eine spirituell inspirierte kulturelle Strömung. Betrachtet man Steiners Wirken ab der theosophischen Zeit (ab ca. 1900), so zeigt sich dort rein historisch und biographisch eine Wende in die Theosophie, später die Anthroposophie und damit äußerlich gesehen in eine esoterische, spirituelle Tradition. Das Frühwerk Steiners wird demgegenüber vielfach als „nur“ philosophisch bezeichnet und es rankt sich eine Kontroverse um die Frage der Kontinuität zwischen Früh- und Spätwerk. Während die einen die philosophische Phase gleichsam als Preliminarium zur eigentlichen Anthroposophie betrachten, finden Andere wiederum, dass das Spätwerk nur eine Transformation der frühen Ideen in die theosophische Sprache sind. Auch die Frage, ob Steiner jene okkulten Inhalte, wie sie im Spätwerk ausgebreitet sind, schon vor 1900 präsent hatte, ob er also gleichsam schon „Eingeweihter“ war und diese Inhalte nur zurückgehalten hat, erhizt die Gemüter. Auch mich hat diese Frage immer beschäftigt, insbesondere weil ich mich mit beiden Seiten verbunden habe. Biographisch zuerst mit dem Spät- und dann mit dem Frühwerk. Und weil für mich auch in meinem unmittelbaren anthroposophischen Alltag stets die Kluft zwischen „normaler“, rational nachvollziehbarer Welterklärung unserer Gegenwartskultur und anthroposophischer, rational nicht unmittelbar nachvollziehbarer Welterklärung offenstand und eines meiner dringendsten Anliegen war, diese Kluft zu schließen: kann man Anthroposophie aus der Vorstellungs- und Begriffswelt unserer Gegenwartskultur entwickeln? Ist das philosophische Werk Steiners ein solcher Versuch? Und kann man die Errungenschaften unseres naturwissenschaftlich aufgeklärten Weltbildes aus der Anthroposophie heraus erklären, ohne sie als bloßen Irrtum oder Einseitigkeit abzutun? Ich erlebte beides als zwei voneinander relativ unabhängige aber gültige Welten und mein Anliegen war, die eine in die andere transformieren zu können.
In Steiners Werk findet diese Kluft ihre Entsprechung in dem Schnitt zwischen Früh- und Spätwerk. Und lange Zeit vertrat auch ich die Ansicht, dass das philosophische Frühwerk in gewisser Weise eine Vorstufe zur Anthroposophie sei, das „nur“ begriffliche Äquivalent zur geistigen Schauung. Von größerer Klarheit und Nachvollziehbarkeit, aber von geringerer Reichweite. Erst die in den vorangegangenen Darstellungen beschriebenen Veränderungen meiner Weltsicht ließ mich hier zu einer neuen Ansicht kommen. Ich habe diese Ansicht nicht aus der Beschäftigung mit Steiner heraus entwickelt, sondern – wie bereits dargestellt – durch andere Anregungen. Aber ich habe die sich wandelnden und entwickelnden Ansichten stets gegen Steiner validiert und dabei erstaunlicherweise weder Widersprüche noch Bestätigung meiner Steinerinterpretation festgestellt, sondern eine Transformation meines Bildes von Steiner. Neben – und chronologisch vor – dem oben geschilderten Erleben, das ich als die Erfahrung des Nichts bezeichnet habe, bin ich durch eher zufällige Anlässe auf das Werk von Niklas Luhmann gestoßen, der in seiner Systemtheorie einen konstruktivistischen Ansatz für die Soziologie ausgearbeitet hat. Zentral ist dabei die Ansicht Luhmanns, dass Systeme nicht einfach so existieren, sondern dass sie nur dann existieren, wenn sie als Systeme beobachtet werden. Zugleich existiert aber auch der Beobachter (bzw. das beobachtende System) nur dadurch, dass es beobachtet. System und Beobachter bedingen einander nicht nur gegenseitig, sie entstehen autopoetisch aus der systembeobachtenden Operation. Damit setzt Luhmann nicht das Sein, sondern die Operation an den systematischen Beginn der Systeme, die als solche nur ein Konstrukt dieser Operation sind, ebenso wie auch der Beobachter (der Operierende) nur als Teil dieser Konstruktion existiert. Ich habe in meinem oben zitierten Buch „Am Anfang war die Unterscheidung“ versucht, diese Dinge ausführlicher darzustellen und zu begründen, warum ich darin einen nicht nur für die Soziologie geeigneten, sondern einen universellen philosophischen Ansatz sehe.
Diese radikale Umstülpung der philosophischen Systematik vom Primat der Ontologie zum Konstruktivismus, in dem das Sein dem Bewusstsein (als universellster Instanz des Beobachtens als Operation) folgt und Objekt wie Subjekt dieser Operation ihr Sein verdanken, ist in philosophischen Worten und Begriffen nichts anderes, als das oben geschilderte Erlebnis des reinen Bewusstseins und des Aufgehobenseins im Nichts und Absoluten. Die Konsequenzen dieser Identifikation sind weitreichend!
Interessanterweise bildete sich bei mir dieser begriffliche Zusammenhang nicht als nachträgliche Erklärung zu dem geschilderten Erlebnis, sondern das Erlebnis folgte der philosophischen Erarbeitung dieser Begriffe. Und im Sinne der oben beschriebenen, immerwährenden und nur verdeckten Anwesenheit dieser Bewusstseinsschicht war vielleicht die philosophische Begegnung mit dem Konstruktivismus eine Bedingung dafür, diese Bewusstseinsschicht dank der Verfügbarkeit geeigneter Begriffe überhaupt wahrnehmen zu können. Was diese Begriffe aber in jedem Falle ermöglichten, das war eine neue Perspektive auf Steiners philosophisches Werk. Denn wie auch in meinem erwähnten Buch beschrieben, finden sich z.B. in Steiners Philosophie der Freiheit Aussagen, die nur unter der Voraussetzung eben dieser radikalen Umstülpung, wie Luhmann sie für den Konstruktivismus formuliert, einen Sinn ergeben. Dass das Subjekt (und das Objekt), wie Steiner schreibt, nur „von des Denkens Gnaden lebt“, lässt sich zunächst nur auf einen relativ trivialen sprachphilosophischen Sinn bringen: insofern ich etwas ein Subjekt nenne, muss ich zuvor Begriffe haben, also im weitesten Sinne denken. Im Kontext des Konstruktivismus bekommt aber dieser Satz von Steiner einen ganz anderen und insbesondere einen tieferen, existenziellen Sinn: das Denken ist bei Steiner jene operative Instanz, die Luhmann „Beobachten“ nennt, die ich oben Bewusstsein genannt habe und die man mit tausend Worten nicht beschreiben kann. Und dann steht das Subjekt nicht nur in einer begrifflichen Bedeutungsabhängigkeit vom Denken als dem alle Begriffe hervorbringenden, sondern das Subjekt „lebt“ tatsächlich nur in diesem und durch dieses Denken. Es ist nicht nur ALS SUBJEKT durch das Denken da, sondern es ist auch als Subjekt nur durch das Denken DA! Es ist nicht nur systematisch sondern auch ontologisch dem Denken untergeordnet.
Und diese Erkenntnis ist, wie bereits geschrieben, philosophischer Ausdruck desjenigen Erlebens, das als Kardinalerfahrung und Ausganspunkt letztlich jedes spirituellen Weltzugangs gelten muss, das ich als Erfahrung des Nichts oder als reines Bewusstsein beschrieben habe, auf das an anderen Stellen als Zeugenschaft, als Erleuchtung, als Achtsamkeit, als absolutes Bewusstsein, als Tao und mit tausend anderen Namen Bezug genommen wird. An dieser Stelle, die Steiner in seiner Philosophie der Freiheit gezielt markiert und die Luhmann ohne spirituelle Zielsetzung, wissenschaftlich aber deutlich schärfer und uns historisch naheliegender darstellt, begegnen sich gleichsam Philosophie und Spiritualität. Und dieser Tatsache, so meine Auffassung, war sich Steiner in ganz eminentem Sinne bewusst! Denn erst unter der Prämisse, dass in Steiners sogenanntem philosophischem Werk tiefste spirituelle Erfahrungen dargestellt werden, machen die schulphilosophisch bisweilen eher dünnwandigen Darstellungen einen Sinn und verleihen den Schriften jene Bedeutung, die ihnen zumindest von anthroposophischer Seite aus zugeschrieben werden.
Was Steiner, durchaus mit philosophischen Mitteln, in seinem Frühwerk niedergelegt hat, das ist keine bloße philosophische Spekulation, sondern das ist im Grunde jene Spiritualität, die wir heute in zahllosen Büchern in jeder Kleinstadtbuchhandlung ausgebreitet finden, die von ungezählten spirituellen Lehrern auf der ganzen Welt gelehrt wird und die sich in den ältesten gnostisch-mystischen Traditionen wiederfindet. Steiner allerdings hat diese Werke ausgearbeitet in einer Zeit, in der selbst Großstadtbuchhandlungen keine Abteilung „Esoterik“ kannten und in denen so gut wie kein entsprechender Kontext vorhanden war, um anders, als er es gemacht hat, nämlich philosophisch, diese Dinge zu formulieren. Erst bei den Theosophen, auch diese damals eine mikroskopische Randerscheinung der Gesellschaft, schien Steiner einen Kontext zu finden, der es ihm ermöglichte, über diese Dinge so zu sprechen, das sein Publikum zumindest im Groben verstand, worum es ging. Seinen „philosophischen“ Schriften blieb nach seiner eigenen Auskunft dieses Verständnis versagt.
Und mit dieser Einsicht schloss sich für mich auf ganz überraschende Weise plötzlich jene Kluft zwischen anthroposophischer Esoterik und philosophischer Wissenschaft, zwischen Früh- und Spätwerk von Steiner. Aber nicht in jener Weise, die ich vielleicht zuvor gesucht hatte, sondern mit dem überraschenden Ergebnis, dass das „philosophisch“ genannte Werk Steiners kein Vorspiel, sondern das eigentliche und unmittelbar spirituelle Werk ist, während das „anthroposophische“ oder „theosophische“ im Grunde keine Erfüllung der biographischen Entwicklung Steiners zum Eingeweihten ist, auch nicht die Offenbarung der eigentlichen Anthroposophie für das endlich gefundene, reife Publikum. Sondern im Sinne der oben geschilderten Praxisnähe und Kultivierung der Spiritualität ist diese „nachtheosophische Anthroposophie“ im Grunde bereits wieder ein Abstieg aus der spirituellen Höhe in die als konstruktivistisch-spirituelle, im Bewusstsein aufgehobene Wirklichkeit erkannte Welt. Die Anthroposophie ist mithin nichts anderes, als die von Steiner geschaffene eigene Wirklichkeit, im Bewusstsein des konstruktivistischen Vorbehalts und im Bewusstsein der Abhängigkeit der Welt vom Subjekt bzw. von der beides hervorbringenden Operation. Anthroposophie (im Sinne des Spätwerkes) ist damit nicht die Auffahrt in die geistig-sprituellen Höhen der Erleuchtung, sondern sie ist das Wiedereintauchen in die sinnliche Wirklichkeit nach der spirituellen oder konstruktivistischen Auflösung der ontologischen Vorurteile unserer naiv-realistischen Welterfahrung. Sie ist im Grunde eine Auferstehung des sich seiner Absolutheit bewusst gewordenen und aus dieser Absolutheit wieder in die Entäußerung sich stürzenden Seins.
Steiner nennt dieses Sein mit einem von vielen Begriffen die „freie Individualität“. Und diese Auferstehung und das freie, individuelle und angesichts des Nichts und des Absoluten keinerlei äußerer Motive bedürftige und aus der schieren „Liebe zur Tat“ und also aus Spaß an der Freud (s.o.) agierende Sein (das, wie wir mit Luhmann wissen, kein Sein, sondern ein Operieren ist), ist meiner heutigen Meinung nach der Grund für dasjenige, was für mich die Anthroposophie als Kulturströmung nach wie vor und trotz aller Vorbehalte als etwas Besonderes hervorhebt: sich mit ganzem Herzen auf sein Handeln einzulassen und zu versuchen, insbesondere in den Praxisfeldern, seiner Sache alles abzufordern, was sie zu einem Eigentlichen macht. Das gelingt nicht immer, das führt bisweilen auch zu Exzessen und Karrikaturen, das kann auch kontraproduktiv und absurd werden, aber wenn man eine Waldorfschule betritt, dann spürt man unmittelbar, dass hier jemand versucht, Schule so zu machen, wie sie „eigentlich“ sein sollte. Wenn man einer Handlung der Christengemeinschaft beiwohnt – auch wenn man wie ich Atheist ist – dann spürt man etwas davon: so stellt sich Gott eine Messe vor! Wenn man ein Demeterbrot kauft, dann schmeckt man, dass hier jemand in der Aufgabe aufgeht, ein richtiges BROT zu backen. Wie gesagt, das misslingt auch oft, manchmal schmeckt’s nur noch nach Mühe und vielleicht stellt sich Gott eine Messe manchmal auch beschwingter vor, aber man spürt diese Absicht und diese Absicht scheint mir mit jener oben beschriebenen Auferstehung zu tun zu haben, aus der die Anthropsophie im engeren Sinne ihre Inspiration zieht.
Und diese Kultur der Eigentlichkeit könnte als Kern der Anthroposophie aller Traditionspflege und der schieren Formerhaltung vorgezogen werden. Denn nur in ihr ist derjenige Impuls wirklich lebendig, der die Anthroposophie hervorgebracht hat und der auch noch ganz andere Dinge hervorbringen kann, als nur das, was sich historisch als anthroposophisches Kulturgut ausgeprägt hat. In diesem Impuls kann sich Anthroposophie nicht nur täglich neu erfinden, sondern sich auch mit anderen Kulturen der Eigentlichkeit, ob spirituell, wissenschaftlich oder völlig anders, synergisch verbinden, ohne sich selbst zu verlieren, ohne auf individuelle Ausprägung und liebgewonnene Traditionen verzichten zu müssen.