Spirituelle Aufklärung 1
Als ich Anfang zwanzig war, saß neben mir an der Bar ein seltsamer Mensch, der einen recht unilateralen Dialog mit mir führte und mir in mehr oder weniger verständlichen Worten die Welt erklärte. Oder zumindest was er, wie ich glaubte, dafür hielt. Ich erinnere mich konkret nur noch an eines: seinen Rat, keine Bücher mehr zu lesen. Er legte mir sehr ans Herz, dass Bücher ungesund seien und dumm machten und daher ungelesen bleiben sollten. Ich war damals höflich und widersprach nicht, ich war mir aber sicher, dass die wirre Frisur auf dem Kopf des Thekennachbars das unmittelbare Abbild seines Geisteszustandes war und widmete mich denn auch ungebrochen meiner damals nahezu exzessiven Lektüre, die sich vorwiegend auf das Werk von Rudolf Steiner und seinen Epigonen richtete. Ich fraß dieses Werk regelrecht in mich hinein und schwelgte in den lebendigen Bildern und all den Bedeutungen, die mir die Welt und sogar das, was „hinter“ ihr liegt, erschließbar erscheinen ließen. Bücher ungesund? Der sprudelnde Quell des Geistes waren sie für mich und die Warnung dieses Stadtstreichers schnell vergessen.
Irgendwann aber tauchte dieser Satz wieder auf. Irgendwann in meinem Studium begann ich etwas eigentümliches festzustellen: ich bemerkte, dass das Wissen, das mir die Bücher gaben, mich wie ein Gefängnis umgab. Ich war geradezu gefangen in dieser Anthroposophie, die für jede Frage eine passable Antwort bereit hielt – und sei es nur als Stichwort in einer Bibliographie, das verbürgte, dass Steiner irgendwo auch zu dieser Frage etwas gesagt haben würde. Ich hatte das Gefühl von Leere und Einsamkeit, weil mir für mein Studium etwas fehlte: Neugier, die Möglichkeit, etwas zu entdecken, eine neue Erfahrungsschicht der Welt und des Lebens freizulegen. Denn ich hatte in der Anthroposophie vermeintlich schon den letzten, höchsten und universellsten Schlüssel zur Wahrheit gefunden. Auch wenn das Tor noch nicht geöffnet war, so stand doch außer Frage, dass nur dieser Schlüssel es irgendwann öffnen würde. Alles Neue, jede Erkenntnis, jeder mögliche Denkansatz, jedes Buch und jeder Autor wurde in meinem Hirn automatisch durch den Steiner-TÜV geprüft, klassifiziert und in bekannten Kategorien abgelegt. Es stand außer Frage, dass ich nichts würde lernen können, das nicht von Steiners Anthroposophie immer schon überstiegen und eingefasst wäre.
Mir fehlte aber genau jene Faszination am Unbekannten, jene Goldgräberstimmung bei der Suche nach einem neuen Weltbild, jene Begeisterung beim Aufstoßen eines lang gesuchten und kaum für möglich gehaltenen Tores in eine neue Welt, von der Menschen berichten, die irgendwo in ihrer Biographie zur Anthroposophie (oder zu anderen Sinnsystemen) gefunden haben. Sie fehlte mir, weil ich gleichsam Anthroposoph von Geburt an war. Aber an einem bestimmten Punkt war mir diese Faszination wichtiger als der Weg und all das (scheinbare) Wissen, das mir die Anthroposophie gab. Ich beschloss also, Neues zu suchen.
Nun konnte ich nicht einfach die Anthroposophie vergessen oder grundlos für Unsinn erklären, aber ich war mir sicher, dass es etwas geben müsse, was darüber hinaus noch entdeckbar wäre. Es musste noch eine Schicht der Welterfahrung möglich sein, die durch diese Anthroposophie nicht abgedeckt war. Es war in dieser Zeit, als mir wieder der Satz des Stadtstreichers ins Gedächtnis kam und von da ab unermüdlich an meiner Überzeugung nagte. Als stünde er noch immer neben mir mit einem Grinsen, darauf wartend, dass er Recht behalten würde. Ich erkannte, dass sich Wissen und Erkenntnis zueinander verhalten wie der Tod zum Leben. Das absurde war, dass es Steiners Anthroposophie selbst war, die mir die Instrumente lieh, um diese Erkenntnis zu erfassen. Steiner beschreibt, dass der Ätherleib als System der Lebenskräfte während des zweiten Jahrsiebts in gewissem Sinne freigesetzt wird, weil ein großer Teil seiner Aufgabe erfüllt ist und dass er dann die Grundlage der Erinnerung wird. Ich fand diesen Zusammenhang lange völlig absurd, bis es mir klar wurde: Erinnerung ist nichts anderes, als konserviertes, festgewordenes, totgewordenes Leben. Um etwas aufzubewahren muss es der Veränderung entzogen werden, es muss konserviert, eingefroren werden. Dort wo der Ätherleib nicht mehr bildet und schafft, wo er nicht mehr „lebt“, da tritt Tod ein, da erstarrt das Gebildete zur Form und wird im Bewusstsein zur Erinnerung.
Wissen ist aber nichts anderes als Erinnerung. Angelesenes Wissen ist toter Ätherleib. Alles, was sich nicht mehr verändert, was nicht aufgelöst und neu erschaffen wird, ist toter Ätherleib. Erkenntnis ist aber immer das Hinzufügen eines Neuen oder das Verändern eines vorhandenen Wissens. Erkenntnis ist Ausdruck des Lebens, Wissen ist Ausdruck des Todes. Wissen ist erstarrte Erkenntnis. Natürlich ist beides nötig und hat beides seinen rechten Ort, aber es war dieser Ausdruck des Todes, den ich spürte, als ich etwas über die angelesene Anthroposophie Hinausgehendes suchte. Und es war vielleicht auch dieser Ausdruck des Todes, der den Stadtstreicher zu der Bemerkung veranlasste, dass Lesen ungesund sei. Vielleicht hat er es auch nur so dahingesagt. Das ändert aber nichts.
Ich habe in der Folge tatsächlich die Bücher zur Seite gelegt und mit etwas begonnen, das eigentlich Steiner an jeder Ecke predigt und das man als braver Anthroposoph, der ich war, doch nie wirklich pflegt – zumindest nicht seinen eigenen Überzeugungen gegenüber: Unbefangenheit und Zweifel. Und gerade die eigenen Überzeugungen sind doch ihr legitimes Opfer. Ich habe mir gesagt: wenn ich schon die Anthroposophie nicht verwerfen kann, dann muss ich sie doch zumindest systematisch so anzweifeln, dass ich sie mir selbst neu erschließen kann. Nicht im Traum hätte ich daran gedacht, dass dieser systematische Zweifel zu einer so grundlegenden Neuerschließung führen würde, dass sprichwörtlich kein Stein auf dem anderen blieb. Tatsächlich löste sich irgendwann nicht nur die Anthroposophie für meine Erkenntnis auf, sondern die ganze Welt. Mein Zweifel wurde universal und existenziell. Und obwohl dem Nichts zu begegnen ein bedrohliches Erlebnis ist, so war es doch auch eine Befreiung, denn so sehr einen der Tod aus dem Dunkel des Nichts anstarrt, so sehr ist es als Akt das schiere Leben, mit dem man diese Erkenntnis erfasst. Es ist etwas, das man auch in tausend Büchern nicht lesen kann. Ich erkannte, dass wahre Philosophie nicht im Anhäufen von Wissen, im Aufbauen von Lehren und Systemen, im Liefern von Erklärungen besteht, sondern im Abtragen von Vorurteilen, im Relativieren von Systemen, im systematischen Zweifeln.
Nachdem ich so für mich die Anthroposophie zerschlagen hatte, konnte ich endlich – was für eine Befreiung! – andere Autoren mit der Unbefangenheit der echten Neugier lesen. Ich konnte aber plötzlich auch Steiner mit dieser Unbefangenheit lesen und feststellen, dass die Fragestellungen der Anthroposophie durchaus universell sind, dass Steiners Antworten nicht die einzigen aber auch nicht die schlechtesten sind, dass sie aber noch keineswegs den Horizont des Fragbaren markierten. Ich sah andere Autoren plötzlich nicht mehr durch die anthroposophische Brille sondern sah ihr eigenes Anliegen, ihre spezifische Weise, mit dem großen Rätsel Welt umzugehen, so wie ich auch in Steiner plötzlich nicht mehr den unhinterfragten Automaten für übersubjektive Welterklärungen sah, sondern einen ebenso Suchenden und Rätselnden, der auf eine große Goldmine gestoßen ist. Ich war hinter den Kulissen, ich hatte meinen eigenen Erkenntnisweg gefunden, mit dem ich mich von der Lektüre sicheren aber ebenso toten Wissens emanzipiert hatte und mir die Freiheit der eigenen, lebendigen Reflexion genommen hatte. Ich bin vom Antworten zum Fragen aufgestiegen. Nicht dass ich nichts mehr lesen würde – ich schreibe sogar – aber ich sehe darin etwas Sekundäres. Das Primäre ist das unmittelbare lebendige Denken, der unbefangene systematische Zweifel, der die innersten Verankerungen des Seins hinter Mauern aus Vorurteilen und Vorstellungen freilegt und erkennt, dass zuletzt überhaupt nichts übrig bleibt. Und in diesem Nichts ist alles aufgehoben und kann von mir konstruktiv gefasst werden.
So wird nicht nur Anthroposophie, aber auch Anthroposophie zu einer ganz neuen Veranstaltung, die an Unmittelbarkeit und Lebensfülle so viel gewinnt, wie das Spielen einer Symphonie gegenüber der bloßen Lektüre der Partitur. Und zugleich verblassen angesichts dieser Fülle all die für wichtig gehaltenen Zeichen und Muster der Partitur zu bloßen Hilfskonstruktionen und Platzhaltern für das darin überhaupt nicht konservierbare sondern stets neu zu erzeugende Eigentliche.