„Bewusstseins-Erfahrung als Mystik – Steiner, Husserl, Luhmann“. Das war der Titel, den der Veranstalter meinem Vortrag gegeben hatte. Zwei Wochen lang habe ich keine Zeit gefunden, mich vorzubereiten, dann saß ich im Zug nach Alfter auf meinem reservierten Platz, den ich mir im überfüllten Zug aber ebenso wie meinen Kopf erst einmal freikämpfen musste.
Mystik. Ich hatte mir zurechtgelegt, entlang einiger Kapitel meines Buches etwas über die Umkehrung des Bewusstseinsbegriffes von der Innenraum-Vorstellung zum überräumlichen und überzeitlichen Modus alles Seienden und zur Auflösung des Subjektes in seine Operationen und damit zur Hintergehbarkeit des Ich-Begriffes zu sagen. Hat das mit Mystik zu tun?
Ich war zum ersten Mal in Alfter. Ein alter Gutshof, umgbaut zu einer kleinen Privat-Uni. Anthroposophische Massivholz-Rustikalität mit moderner organisch-ökologischer Zweckbau-Architektur. Dazwischen Studenten, die kreativ und selbstbewusst wirken. Knapp 100 der 400 Studenten der Hochschule nehmen an dem Symposium teil, dazu noch ca. 20 oder 30 externe Teilnehmer. Das Symposium ist Teil der regulären Wahlpflichtveranstaltungen im Studium Generale, einem Studienteil, in dem jeder Student, gleich welcher Fachrichtung, einen interdisziplinären, vorwiegend kulturwissenschaftlichen Parcour als Basisbildung durchläuft, um dann umso autonomer und projektorientierter seine eigentlichen Fachstudien durchzuführen (wenn ich das richtig verstanden habe).
Nun aber Mystik. Marcelo da Veiga führt mit einem Geistesgeschichtlichen Abriss und einigen Überlegungen zur Stellung der Mystik in der Gegenwart ins Thema ein. Danach folgt ein Vortrag von Manfred Krüger über die Mystik im Werk Albrecht Dürers. In einer übersichtlichen Kunstbetrachtung zeigt er, wie sich die Themen Selbsterkenntnis und „…der Christus in mir“ in Dürers Werk, insbesondere in seinen Selbstbildnissen niederschlagen. Dann folgt eine eurythmische Performance, die zeigt, dass auch Eurythmie prinzipiell ins 21. Jahrhundert transponierbar ist. Danach ein kurzes Plenum zu den beiden Vorträgen.
Am Abend werde ich Zeuge einer Rundfunkproduktion zum Thema Online-Dating, die im Rahmen einer Diplomarbeit im Fach Schauspiel vor Ort und mit Publikum aufgezeichnet wird. Dann ist der Zeitpunkt gekommen, meinen Vortrag wirklich vorzubereiten, denn es trennen mich nur noch ca. 16 Stunden von seinem Gehaltenwerden. Ich denke, einige Überlegungen zu der Tatsache, dass Symposien ursprünglich im Liegen stattfanden und in Verbindung mit Wein, gutem Essen und hübschen Knaben standen, sollte der einzigen mir bekannten rhetorischen Grundregel genügen: unbedingt mit einem Witz beginnen! Darüberhinaus haben mir die bereits gehörten Vorträge doch ein etwas klareres Bild über die zentralen Aspekte der Mystik verschafft. Dieses Bild wird am Morgen des zweiten Tages durch einen Vortrag von Ibraim Abouleish, den Bezwinger der ägyptischen Wüste, zum Thema Mystik im Islam ergänzt.
Obwohl ich mich eigentlich mit Mystik nie wirklich beschäftigt habe, ist meine philosophische Perspektive, die ich in meinem Buch als „ontologischen Monismus“ bezeichnet habe, und die sowohl die Phänomenologie Husserls als auch die Systemtheorie von Luhmann einbezieht, doch insoweit mit Mystik kompatibel, als es sich im Unterschied zu bewusstseinsphilosophischen und analytischen Ansätzen um einen prinzipiell Erfahrungsbasierten Zugang handelt, der dem Ich und der Erscheinungswelt den selben Wirklichkeitsgrund zuspricht.
Vor mir spricht aber noch Jens Heisterkamp, dem ich als meinem Verleger verdanke, überhaupt in diesen Ring steigen zu dürfen. Er stellt die drei spirituellen Beweger Eckhard Tolle, Ken Wilber und Andrew Cohen als Vertreter einer modernen, westlichen Mystik in prägnanten, kurzen und dennoch erstaunlich umfassenden Portraits vor. Nach dem Mittagessen bin ich dann selbst an der Reihe und so versuche ich, dem Publikum verständlich zu machen, was in meinem Kopf vor sich geht – und was nicht. Dabei bin ich überrascht über den Genuss, den ich aus der Möglichkeit ziehe, eine ausgedehnte Pause beim Sprechen machen zu können, ohne dass jemand das Wort an sich reißt, dazwischen redet oder mich auf andere Weise vom Verfolgen eines Gedankens ablenkt. Das konzentrierte Interesse des Publikums zeigte sich aber nicht nur beim aufmerksamen Zuhören sondern auch in gezielten Fragen während der Aussprache und im späteren Plenum, das nach dem letzten Vortrag von Jost Schieren über Mystik und Erkenntnis und einer abermaligen eurythmischen Performance stattfand.
Das größte Faszinosum an diesem Tag war für mich aber die offene Begeisterung, die von den Studierenden sowohl im Plenum als auch in Diskussionen während der Pausen ausging. Nicht nur dass ich das Gefühl hatte, hier unter Menschen zu sein, für die Philosophie weder schiere Profession noch bloßes Delektieren an semantischen Strukturen ist, sondern echtes Fragen – ich fand dort jenen authentischen wissenschaftlich-kreativen Geist unter den Studierenden, den ich in meinem eigenen Studium an „konventionellen“ Universitätsinstituten stets vermisst habe. Die ganzen Tage danach war ich elektrisiert von diesem gesamten Ereignis, das mir ganz lebendig vor Augen geführt hat, wie ich mir eine Beschäftigung mit Philosophie idealerweise vorstellen könnte und dass diese Art der Beschäftigung weniger inhaltlich als vielmehr methodisch und in ihrer Haltung tatsächlich etwas mit Mystik zu tun hat. So wurde ich in Alfter aus meiner sturen Alltagsbeschäftigung etwas herausgehoben und konnte ein Stück vom großen Licht sehen!