Wo steckt unser Ich?

Egal ob Materialist naturwissenschaftlicher Prägung oder anthroposophischer Spiritualist, die Antwort auf diese Frage ist im Grunde immer die gleiche. Das Ich wird als Zentrum der eigenen Person betrachtet, sei es nun im Sinne einer materiell-funktionalen Einheit oder im Sinne eines geistigen Wesenskernes. In jedem Falle wird das Ich als Subjekt des persönlichen Handelns und somit als Substrat unseres Handelns und unseres Bewusstseins betrachtet. Das Ich ist die letzte Instanz auf der Suche nach dem Agens hinter der Person und als solches die eigentliche geistige Identität des Menschen, die letzte Bastion der Wirklichkeit hinter den Schichten bloß außenweltlicher Prädikationen und Anhaftungen.<br />
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Doch was, wenn auch das Ich nur eine letzte Schicht der Äußerlichkeit ist, ohne weiteren Kern, ohne ein darunter liegendes Supersubstrat, ohne absolute Identität? Man kann auch bei Steiner über Passagen stolpern, wo er das Ich in der Umwelt verortet. Um das Ich zu finden, müssen wir nicht im Menschen, sondern in seiner Umwelt suchen. Das Ich ist nicht der Ausgangspunkt der Person und ihres individuellen Handelns, es ist vielmehr deren Ergebnis. Im Handeln, im Eingebundensein in die Mannigfaltigkeit der äußeren sinnlichen Welt, in der sozialen Interaktion und nicht zuletzt im Umgang mit der Körperlichkeit fügen sich Einzeloperationen zu einem Bedeutungszusammenhang des Operierens und Handelns zusammen, dessen Einheit wir als Subjekt und hypostasierend als Ich bezeichnen und erleben. Wir sind als Ich nichts anderes als die an der Beobachtung der Außenwelt gezeugte Innenwelt, gleichsam ein bloß perspektivisch gedachter Fluchtpunkt der Einheit der Mannigfaltigkeit des Äußeren Seins.<br />
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Wo also steckt unser Ich? Es steckt überhaupt nicht sondern ist nur ein Modus des die Außenwelt erlebend erschaffenden Bewusstseins, um diesem Erleben eine Einheit und damit eine Bedeutung zu geben. Wo wir einen Baum als Baum bezeichnen und ihm damit die für uns mit einem Baum verbundene Bedeutung geben, da reißen wir diesen Baum aus dem indifferenten Sein heraus in die Vereinzelung der sinnlichen Erfahrbarkeit. Die Leerstelle, die bleibt, der Negativabdruck im Sein, der durch das Entäußern des Baumes entsteht, den bezeichnen wir als Ich. Dieses Ich ist weder Urheber oder Vollstrecker des "Herausreißens", noch ist es ein unabhängig von der Äußerlichkeit (dem Baum) existierendes Substrat, es ist vielmehr eine hinterlassene Spur der Erzeugung der äußeren Wirklichkeit des Baumes durch das beobachtende und erlebende Bewusstsein. Im Grunde existiert das Ich damit im Baum und in allen Dingen und Wesen der Außenwelt. Es ist nichts anderes als der Umkehrschluss der Außenwelt, es ist das fundamentalste Wesen in den Dingen, das in der schieren Äußerlichkeit, dem sich Gegenüberstellen als solchem besteht. Ich ist nichts anders als Außenwelt zu haben und die gesamte Vielfalt der Außenwelt repräsentiert das Wesen und die Individualität des Ich. Wir sind die Welt, in der wir leben. Im Kern der Zwiebel aus Schichten an Außenwelten bleibt nichts übrige. Ich bin selbst die Zwiebel!<br />
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Es ist letzlich dieser Gedanke, den das Buch "Wo steckt unser Ich?" in drei Beiträgen auf drei ganz unterschiedlichen Ebenen verfolgt: im Anschluss an das Konzept des "Zwischen-Menschen", eines kollektiven und überindividuellen Ich in der Japanischen Sprache und Lebensphilosophie (Gernot Böhme), in einer gehirnphysiologischen Betrachtung des Verhältnis von Bewusstsein und Umwelt (Thomas Fuchs) und in einer konsequent phänomenalistischen Betrachtung von biologischen Rhythmen als Wechselspiel von Entäußerung und Identifikation (Jan Vagedes). Insbesondere der Beitrag von Gernot Böhme stellt dabei das westlich-europäische Konzept des Ich so radikal in Frage, dass man sich beim Lesen mehrfach versichern muss, tatsächlich ein Buch aus einem anthroposophischen Verlag in Händen zu halten. Denn die Anthroposopohie pflegt in weiten Teilen aus ihrem individualistischen Ansatz heraus eine positivistische Verabsolutierung des Ich als eigentliche, geistige Wirklichkeit, die das zur Maja degradierte äußere sinnliche Sein nur ersetzt, um nicht in das schwarze Loch eines Nihilismus zu fallen. <br />
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Umso erstaunlicher und erfreulicher ist dieses von Andreas Neider herausgegebene Buch. Es ist ein Beitrag dazu, die Anthroposophie in einen modernen Diskurs sowohl auf naturwissenschaftlichem als auch spirituellem Gebiet einzubinden und sie an ihre wirklich originellen Ideen zu erinnern, mit denen Steiner bereits vor einem guten Jahrhundert moderne Bewusstseinskonzepte antizipiert hat, indem er das Denken als den eigentlichen Quell der Wirklichkeit und damit auch als Erzeuger des Ich identifiziert und ins Zentrum seines Schaffens gestellt hat.<br />
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Andreas Neider (Hrg.): Wo steckt unser Ich?<br />
Beiträge einer 'sphärischen Anthropologie'<br />
Verlag: Freies Geistesleben 2008, 128 Seiten, ISBN10: 3-772-52192-4 / ISBN13: 978-3-772521-92-8<br />
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